1143 - Grabmal des Grauens
große Zimmer. Er allerdings stammte aus einer normalen Quelle. Da waren Wolken über den Himmel gezogen und hatten sich vor die Sonne geschoben.
Schließlich fragte Anne: »Was sollen wir tun? Hast du einen Vorschlag, Marion?«
»Nein.«
»Die Polizei einschalten?«
»Nein, Mutter. Ich brauche dich nur anzuschauen. Du glaubst mir nicht, und die Polizei wird mir auch nicht glauben. Davon bin ich überzeugt. So geht das nicht.«
»Was willst du dann tun?«
Marion räusperte sich. Sie wusste, dass ihr eine schwere Überzeugungsarbeit bevorstand, und während sie sprach, senkte sie auch den Blick. »Wichtig ist, dass du mir glaubst, Mutter. Wenn das passiert, dann können wir gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Ansonsten weiß ich nicht mehr weiter.«
Anne nickte ihrer Tochter zu. »Du bist sicher, dass du den Schatten des Beils gesehen hast?«
»Hundertprozentig.«
»Hm.« Anne sah auf ihre Hände. »Ich bin keine Fachfrau. Soviel ich weiß, ist ein Schatten kein materieller Gegenstand. Man kann ihn nicht anfassen. Er ist das etwas geisterhafte Abbild eines Körpers. Niemand schafft es, ihn zu greifen, und deshalb kann ein Schatten auch nicht morden.«
»Da könnte ich dir zustimmen.«
»Wunderbar, Marion. Damit wäre schon ein Problem gelöst, stelle ich mir mal vor.«
»Nein, Mutter.«
»Warum nicht?«
»Weil ein Schatten nicht immer ein Schatten bleiben muss. Er kann zu etwas anderem werden, wenn es darauf ankommt. Dann könnte er feste Form annehmen.«
»Aha, das meinst du.«
»Ja, ich habe keine andere Erklärung. Wenn der Schatten tötet, muss er sich verwandeln. Er wird sein Aussehen behalten, aber er wird auch eine feste Form bekommen. Nach meiner Ansicht wird er sich bei der Tat wieder in ein normales Beil verwandeln und später diesen Zustand erneut aufgeben.«
Anne blies die Luft aus. »Alle Achtung, Kind, das hat sich überzeugend angehört.«
»Ich bin davon auch überzeugt.«
»Klar, das streitet keiner ab. Nur kannst du nicht von mir verlangen, dass ich es auch bin, obwohl ich zugeben muss, dass der Mord an deinem Freund schon gewisse Rätsel aufweist. Daran gibt es nichts zu rütteln. Damit wird auch die Polizei ihre Schwierigkeiten haben. Mehr Zustimmung kannst du ohne Beweise von mir nicht erwarten.«
Marion räusperte sich. »Du solltest froh darüber sein, dass er dir noch nicht begegnet ist. Möglicherweise hättest du es nicht überlebt. Ich jedenfalls habe Angst, schreckliche Angst. Zweimal habe ich ihn gesehen und bin ihm entwischt. Ein drittes Mal wird das wohl nicht eintreten. Da werde ich…«
Anne unterbrach ihre Tochter. »Wenn du so denkst, solltest du dich in Schutzhaft begeben.«
»Wird die Polizei mir glauben? Glaubst du mir? Für Schutzhaft muss es einen Grund geben.«
»Das sehe ich ein. Was willst du dann tun? Hast du dir darüber Gedanken gemacht?«
Marion lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Sie schaute gegen die helle Decke, die von keinem Schatten mehr bedeckt wurde. »Ja, Mutter, darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht. Ich werde nicht fliehen. Ich werde bleiben und mich dem Schatten stellen. Ich will das Rätsel lösen.«
Anne trank ihr Glas leer. »Du bist erwachsen, Marion. Ich habe Respekt vor deiner Leistung, doch ich kann nicht nachvollziehen, was du jetzt vorhast. Ich werde…«
Sie verschluckte die nächsten Worte. Ihr Blick veränderte sich und sie schaute starr an der rechten Schulter ihrer Tochter vorbei. Sie sagte nichts. Erst als sich Anne erhob, wurde Marion aufmerksam.
»Was hast du denn, Mutter?«
Anne schüttelte den Kopf. »Eigentlich nichts. Es ist auch komisch. Aber hast du nicht von einem Schatten gesprochen?«
»Klar.«
»Ich glaube… ich glaube…«
»Nein, Mutter!«
»Doch!«
Marion hielt es nicht mehr aus. Auch sie schnellte hoch und drehte sich herum.
Ihre Mutter hatte recht. Es war ein Schatten da. Kein normaler, sondern einer, der eine bestimmte Form aufwies.
Marion hatte Besuch vom Beil des Mörders bekommen!
Beide Frauen waren nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. All das Negieren der Erklärungen ihrer Tochter war für Anne Hopper wie weggewischt worden. Jetzt sah sie den Schatten, und er sah genauso aus, wie Marion ihn beschrieben hatte. Sehr lang, sehr schräg, von der Decke bis zum Boden reichend, und genau auf dem Boden malte sich die Klinge des Beils ab.
Im Gegensatz zu ihrer Mutter bewegte sich Marion nicht. Anne drehte den Kopf und suchte nach dem Grund für
Weitere Kostenlose Bücher