1143 - Grabmal des Grauens
das Erscheinen des Schattens.
Sie sah keinen Gegenstand, der den Schatten hätte werfen können. Der hier war aus dem Nichts erschienen und stand in der Luft wie gezeichnet.
»Träume ich?«, flüsterte Anne.
»Nein, du träumst nicht.«
»Das also ist die Mordwaffe.«
»Ja, Mutter.«
»Aber sie ist nicht existent.«
»Ja und nein.«
Anne Hopper wartete noch einen Moment, dann verließ sie ihren Platz umrundete den Tisch und ging mit wohlgesetzten Schritten auf den im Zimmer schwebenden Schatten zu.
»Was hast du vor, Mutter?«, fragte Marion »Bitte…«
»Ich werde ihn mir näher ansehen, Kind. Ich will herausfinden, ob man einen Schatten auch anfassen kann. Tut mir leid, aber das muss ich einfach tun.«
»Sei vorsichtig. Er kann auch…«
»Ja, ja, ich weiß. Er ist das Killerbeil. Aber davon sollten wir uns nicht fertig machen lassen. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe, Marion.«
Sie wusste nicht, ob sie dem Wunsch ihrer Mutter Folge leisten sollte.
Ihr war heiß und kalt zugleich, doch auch Anne Hopper sah jetzt anders aus. Sie glich mehr einer Marionette, die sich auf den Weg gemacht hatte. Etwas schien sie zu stören. Je näher sie an das Ziel herankam, um so mehr veränderte sie sich. Anne Hopper blieb stehen und streckte ihre Hände aus.
»Mutter…?«
»Lass mich!«
Marion steckte in einer Zwickmühle. Sie ahnte, dass sich ihre Mutter übernahm, aber sie kannte auch deren starken Willen. Wenn Anne sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte sie es auch durch. Bis zum bitteren Ende.
Dicht vor dem Schatten blieb sie stehen. Auch jetzt blieben die Hände ausgestreckt. Ihre Finger zitterten leicht.
Der Schatten bewegte sich nicht. Ganz im Gegensatz zu Anne Hopper, die mit den Schultern rollte und dabei ihrer Tochter bekannt gab, was sie fühlte.
»Ich höre etwas, Marion. Stimmen… ja, es sind Stimmen. Ferne Stimmen. Sie schreien. Sie klagen, sie weinen. Es ist eigentlich grausam, denn sie hören sich an, als würden die Menschen gefoltert, deren Stimmen ich vernehme…«
»Geh zurück - bitte!«
»Nein, jetzt nicht mehr.« Ihr Blick war gläsern geworden und nach innen gerichtet. »Ich glaube sogar, dass es Stimmen sind, die ich kenne, Marion. Eine gehört deinem Vater. Die anderen seinen Brüdern. Dein Vater jammert. Er hat Angst. Er schreit und fleht. Er kommt nicht mehr weg - und jetzt…«
Anne Hopper Worte verstummten. Durch ihren Körper schoss ein Zittern. Sie hatte Mühe, die Balance zu behalten und wirkte wie eine Frau, vor deren Augen sich alles drehte.
Marion hätte eigentlich hingemusst, um Anne zu helfen. Aber sie kam sich vor wie eine fremde Person, die zur Seite geschoben worden war.
»Lass das Beil, Mutter!«
Anne schüttelte den Kopf. »Nein, ich lasse es nicht. Da sind welche, die was zu mir sagen, Kind. Sie… sie… wollen ja, dass ich es nehme. Die Toten erlauben es mir.«
»Das ist Wahnsinn! Du begibst dich in Gefahr!«
»Unsinn, Kind.« Mehr fügte Anne Hopper nicht hinzu, denn sie fasste mit beiden Händen in den Schatten hinein. Das sah sogar völlig normal aus, denn Anne umgriff den langen Stiel als wäre er existent und nicht nur ein Schatten.
Sie hielt ihn fest!
Marion konnte es nicht fassen. Sie hatte ihre Hände zu Fäusten geballt und spürte auf der Haut den Schweiß.
Ihre Mutter hatte sich mit dem Schatten angefreundet. Sie hielt ihn fest, als wäre es ein normaler fester Gegenstand.
»Die Stimmen sind noch immer da, Tochter! Ja, ich kann sie sogar unterscheiden…«
»Lass ihn los, Mutter - bitte!«
»Ich kann es nicht mehr!«
Die letzten Worte hatten Marion tief erschreckt. Sie brauchte nur einen Blick auf ihre Mutter zu werfen, um zu erkennen, dass sie nicht gelogen hatte. Es war schlimm. Sie kannte Anne nicht mehr wieder, die einen regelrechten Kampf mit dem verdammten Beil ausfocht. Die Arme hielt sie nach vorn gestreckt und halb erhoben. Obwohl die Hände sich noch um einen Schatten klammerten, sah es so aus, als wäre dieser bereits ein normal schwerer Gegenstand.
Anne drehte sich.
Es war nicht einfach. Sie schien unter einer großen Last zu stehen. Sie ächzte, und Marion konnte genau sehen, dass der Schatten des Beils mitwanderte. Er bewegte sich genau auf sie zu.
Für einen kurzen Augenblick verlor sie ihren gedanklichen Faden. Der Blick wurde starr. Was ihre Mutter tat, das konnte sie nicht begreifen.
Hielt sie tatsächlich einen schweren Gegenstand in der Hand oder war es nur…
Dann schrie sie.
Und ihr Gesicht
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