1148 - Der Butler
lebenden Toten noch immer seinen Großvater. Er war innerlich zerrissen und hatte das Gefühl, ständig Faustschläge in den Magen zu bekommen.
Natürlich wäre er am liebsten davongelaufen. Beides schaffte er nicht. Er konnte weder schreien, noch davonlaufen. Er musste einfach bleiben, als hätte man ihn an der Stelle angebunden.
Die Gestalt kämpfte sich weiter aus dem Grab hervor. Chris war jetzt so weit, dass er diesen lebenden Toten nicht mehr als seinen Großvater akzeptierte. Er war für ihn nur mehr das schreckliche Monstrum, das keine Lust mehr hatte, im kalten Grab zu bleiben und es aus irgendwelchen Gründen verlassen musste. Er war bösartig, grauenhaft, und er war genau das, was man in den entsprechenden Filmen zu sehen bekam. Dann würde er weglaufen von seiner Grabstätte, um sich auf die Suche nach Menschen zu machen.
Der Junge blickte zu Edward. Der bewegte sich nicht und glich einer Säule. Er lächelte, das war trotz der Dunkelheit zu sehen. In seinen dunklen Augen lag ein seltsamer Schimmer, und den Mund hatte er halb geöffnet.
Edward hatte den Blick des jungen Mannes bemerkt und nickte ihm zu. »Hast du es gesehen, Chris?«
»Ja.«
»Es ist dein Großvater. Ich habe dich zu ihm gebracht. Ich habe meine Pflicht erfüllt.«
Chris schüttelte den Kopf. »Nein, das ist er nicht. Das ist nicht mein Großvater. Das kann er gar nicht sein. Mein Großvater sieht anders aus, ganz anders. Ich habe ihn auch anders in Erinnerung. Selbst im Tod machte er noch einen vornehmen Eindruck, haben die Leute gesagt. Dieser ist nicht mehr so. Dies hier ist… ist… ein Zombie!«
»Ja, du hast Recht. Er ist ein lebender Toter. Er hat keine Ruhe gefunden. Er will die Dinge wieder richten. Zusammen mit dir, verstehst du, Chris?«
Chris begriff, was gemeint war. Sein Verstand arbeitete ungewöhnlich präzise, trotz des gewaltigen Drucks, unter dem er stand. Es gab für den Zombie noch etwas zu erledigen, so verstand Chris zumindest das Wort »richten«. Aber was konnte das sein? Was hatte ihn im Leben so aufgeregt, dass er aus dem Grab zurückkehren musste, um sich wieder unter die Lebenden zu mischen?
»Ich?«, flüsterte Chris. »Ja, genau du!«
»Nein, nein…« Chris wollte zurückweichen. Er schaffte es nicht. Es war eine Grenze vorhanden, die er nicht überwinden konnte. In seinem Kopf hämmerte es. Er spürte dieses Gefühl als stechende Schmerzen, die ihn nicht losließen.
Er wünschte sich in die Tiefe der Erde zu versinken, denn was er hier sah, das war zu ungeheuerlich.
Ein Geräusch schreckte ihn auf. Er traute sich nicht, zum Grab zu schauen. Das tat der Butler, und er hatte dabei seinen Mund zu einem breiten Lächeln verzogen. Diesem Ausdruck entnahm Chris, dass etwas Entscheidendes geschehen sein musste, an dem auch er nicht vorbeikam. Und so richtete er seinen Blick wieder auf die Gestalt.
Sie hatte das kalte Grab verlassen. Sie zog noch das linke Bein nach, dann stand sie vor dem Grabstein und glotzte Chris an. Da bewegten sich keine Augen mehr. Sie glichen starren Kugeln, und der Mund war nichts anderes als ein Loch.
Chris spürte die Angst wie eine Peitsche, die auf ihn niederschlug. Er duckte sich sogar. In seiner Nähe hörte er die schleifenden Schritte. Es war der Butler, der sich ihm näherte und die Hand gegen seinen Rücken drückte.
»Schau ihn dir an. Er mag dich. Ich spüre sehr deutlich, dass er dich mag. Er hat dich nicht vergessen. Noch in dieser Nacht wird er dich mitnehmen.«
»Mich…?«
»Ja.«
»Wohin denn?«
»Dorthin, wo er immer gelebt hat, Chris. Er wird mit dir in sein Haus zurückkehren. Dort hat man ihn vergessen, aber er hat die anderen nicht vergessen.«
Der junge Mann begriff nichts. Er wollte es auch nicht. Was er hier durchmachte, war einfach zu viel. Der Druck war einfach nicht mehr auszuhalten, und auch der Butler, der seine Hand gegen Chris' Rücken hielt, spürte das Zittern der Gestalt.
»Keine Sorge, du bist schon immer sein Lieblingsenkel gewesen, und das hat sich bis heute nicht geändert. Er wird dir nichts tun. Er ist froh, dass er bei dir sein kann. Er wird an deiner Seite bleiben wie ein Schutzengel.«
Chris sagte nichts. Er starrte ins Leere. Er sah aus wie eine Leiche, denn aus seiner Gestalt war alles Leben gewichen. Wenn ein Zombie etwas fühlen konnte, dann fühlte er sich so, obwohl sein Herz noch schlug, und das seines Großvaters nicht.
Die Gestalt auf dem Grab hatte sich mit einer schwerfälligen Bewegung gedreht. Sie stand
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