1155 - Luzifers große Stunde
vernichten. Deshalb hatte er die Seelen aus dem finsteren Reich hervorgeholt und ihnen wieder eine Gestalt gegeben.
Ich hatte sie so erlebt. Ein Wesen, das mit seiner Existenz nicht mehr zurecht kam und sich dabei in einer kaum zu beschreibenden Traurigkeit erging. Ich hatte es schreien, jammern und klagen gehört.
Ein wildes Heulen, das von der Insel her über das Wasser gehallt war und das schließlich durch den Einsatz meines Kreuzes zu Stein erstarrt war. Wenig später hatte es Raniel mit seinem gläsernen Schwert endgültig vernichtet, so dass von ihm nichts mehr zurückgeblieben war.
Die schwarze, lichtlose Welt des Spuks war aufgerissen und angreifbar gemacht worden. Ich hatte mit ihm kommunizieren können, ich hatte sogar seine Furcht verspürt, bevor das Gesicht in der Schwärze erschienen war, und war zu der Ansicht gelangt, dass sich der Spuk ausgerechnet mich als Helfer ausgesucht hatte.
Etwas, das eigentlich verrückt und zugleich auch lächerlich war. Aber nicht von der Hand zu weisen. Meiner Ansicht nach standen im Reich der Finsternisse Umbrüche bevor. Luzifer wollte allein herrschen und alles, was sich neben ihm aufgebaut hatte, zerstören. Mit dem Spuk fing er an. Er reizte ihn. Es war ihm gelungen, in sein Reich einzubrechen. Etwas, das selbst ich nicht für möglich gehalten hätte, aber seine Macht war unbestritten.
Einen Sieg hatte er nicht errungen, nur einen Teilerfolg. Er würde weitermachen. Er würde die Seelen der Dämonen aus der Verdammnis holen und ihnen Körper zuteilen. Ob es die gleichen waren, in denen sie früher existiert hatten, das wusste ich nicht.
Für mich stand jedenfalls fest, dass der Kampf sein Ende noch längst nicht erreicht hatte, auch wenn es jetzt zu einer Atempause gekommen war.
Der plötzliche Ruck des Bootes warf mich leicht nach vorn. Suko hatte den Kahn mit dem Bug ans Ufer fahren lassen. Es schrammte über die kleinen Steine hinweg, und nicht nur ich war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.
Suko stieg als erster aus und zog das Boot weiter aufs Ufer. Ich erhob mich langsamer. Die Gegend war einsam und dunkel. Der Wolkenteppich hing noch immer vor den Gestirnen und dem Mond wie unterschiedliche Schichten aus Blei.
Mit müden Bewegungen verließ ich den Kahn. Suko war schon ausgestiegen. Er stützte sich auf dem Schwert des Salomo ab, das nicht zum Einsatz gekommen war.
Wir sahen beide recht erschöpft aus, aber es gab noch eine dritte Person, die ich vermisste. »Du hast mit Raniel zu tun gehabt, ich ebenfalls. Du hast ihn gesehen, als er im Wasser trieb, aber wo befindet er sich jetzt?«
»Keine Ahnung.«
»Ich bin hier!«
Beide hörten wir seine Stimme, und wir fuhren herum. Er hatte in der Nähe gewartet, geschützt durch die recht hoch gewachsenen Uferbüsche.
Der Gerechte war für mich immer so etwas wie ein ambivalenter Freund und Helfer gewesen. Ich hatte ihn oft genug wegen seiner Kraft bewundert. Jetzt wirkte er auf Suko und mich wie eine Gestalt, die viel Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte, der nicht eben auf der Siegerstraße stand. Er lächelte trotzdem und blieb so dicht bei uns stehen, dass er uns leise ansprechen konnte.
»Es tut mir leid, Freunde, aber ich habe einsehen müssen, dass auch mir Grenzen gesetzt sind.«
»Niemand ist perfekt«, sagte ich und deutete auf das Wasser. »Auch Luzifer nicht.«
Der Gerechte nickte mir zu. »Ich muss dir gratulieren, John. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich aus dieser Lage befreien könntest. Mir wäre es nicht möglich gewesen, das muss ich leider zugeben.«
»Und die Flammen?«
»Ich war zu schnell.«
»Zum Glück. Aber hätte mir mein Schwert denn in diesem Fall geholfen? Oder weshalb hat Suko es mitnehmen sollen?«
»Ich sah darin eine Chance. Aber niemand ist ohne Fehl und Tadel. Keiner ist perfekt.«
»Trotzdem machen wir weiter!«, sagte Suko. »Das müssen wir. Nur bin ich etwas außen vor. Ich habe noch nicht richtig eingreifen können. Die wahren Kenner seid ihr. Glaubte denn einer von euch, dass Luzifer seine Pläne aufgeben wird?«
Das glaubten wir nicht.
»Also hängen wir uns rein.«
Ich stimmte ihm zu. Raniel war da anderer Meinung. »Warum sollten wir das tun?« fragte er.
»Moment mal.« Ich hob eine Hand. »Du warst es doch, der mich alarmiert hat.«
»Das stimmt, John. Ich habe inzwischen allerdings nachgedacht und sehe jetzt keinen Sinn darin, wenn wir uns aufreiben. Das… das… nervt uns, das bringt uns nicht weiter. Es wäre doch
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