1163 - Der Blut-Galan
- Ja, sie hat sich verwandelt. Da ist etwas aus ihr herausgekommen, mit dem ich nicht fertig werde.«
»Und was ist es?«, fragte Sheila.
»Das Tier!«
Bill und Sheila waren zunächst sprachlos. Sie schauten sich an, dann ihre Besucherin, die ihre Antwort verdammt ernst gemeint hatte, denn auf dem blassen Gesicht mit den Sommersprossen lag ein sehr ernster Ausdruck und nicht die Spur eines Lächelns.
Bill legte den Kopf schief, als er fragte: »Wir haben uns doch nicht verhört, Judy?«
»Nein, das haben Sie nicht.«
»Ein Tier also. Sie gehen davon aus, dass Ihre Schwester kein Mensch, sondern ein Tier ist.«
»So sehe ich das nicht«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Alice kann durchaus beides sein. Einmal Mensch und dann wieder Tier. Womöglich ist sie in ein Wechselspiel hineingeraten.«
»Dr. Jekyll und Mr. Hyde, wie?«
»So ähnlich, Mrs. Conolly.«
»Und haben Sie denn Ihre Schwester als Tier gesehen, in das sie sich verwandelt haben könnte?«
»Nein.«
Jetzt konnte Sheila ihr Lachen nicht mehr unterdrücken. »Wie kommen Sie dann darauf?«
»Das ist eine etwas längere Geschichte.«
»Keine Angst, wir hören zu.«
Judy Carver trank ihre Tasse leer und sprach erst dann. »Meine Schwester, die drei Jahre älter ist als ich, war für mich immer ein großes Vorbild. Wir haben uns wirklich gut verstanden, und ich habe sie bewundert, ohne neidisch auf sie zu sein. Ihr fiel auch immer alles leichter. Sie hat die Schule locker geschafft, sie hat auch studiert und war kurz darauf stellvertretende Leiterin der Universitätsbibliothek. Bei mir klappte das nie so gut, aber was Alice sich vornahm, das brachte sie auch in die Reihe. Allerdings war sie auch sehr introvertiert. Sie war beschäftigt mit ihren Büchern, und sie war ungemein belesen. Dann wurde sie immer stiller und stiller. Es gab Tage im Monat, da war sie einfach ungenießbar. Da wollte sie nicht mit mir reden. Wenn ich sie ansprach, drehte sie sich weg. Sie fauchte mich auch an, sie in Ruhe zu lassen.«
»Das wiederholte sich in jedem Monat?«
»Ja, Bill, es gab einen Rhythmus. Ich habe ihn identifiziert. Immer dann, wenn der volle Mond am Himmel stand, ist es zu dieser Veränderung gekommen.«
»War sie mondsüchtig?«, fragte Sheila.
»Nein, auf keinen Fall!«
»Was war es dann? Warum immer bei Vollmond?«
»Ja, Mrs. Conolly«, wiederholte Judy Carver, »warum immer bei Vollmond? Ich wusste es auch nicht so recht. Mit dem Erscheinen des Vollmondes verbindet man ja viele schreckliche Legenden. Das brauche ich Ihnen nicht zu sagen, Bill. Da kennen Sie sich aus. Deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen.«
Bill kam direkt auf den Punkt. »Daran schließt sich meine Frage an. Denken Sie an eine Verwandlung? Deshalb der Ausspruch, dass sie halb Mensch und halb Tier ist.«
Judy seufzte. »Sie haben irgendwie den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber so weit will ich gar nicht erst gehen, Bill. Ich behalte es natürlich im Hinterkopf, aber ich will von vorn beginnen und dann Ihre Meinung hören, falls es Ihnen nichts ausmacht.«
»Nein, nein, reden Sie nur«, sagte Sheila.
»Meine Schwester änderte plötzlich ihr Leben. Sie zog aus London weg in die Provinz oder aufs Land. Sie versteckte sich in East Sussex, in einem Kaff mit dem Namen Doleham.«
»Kennen wir nicht«, sagte Bill.
»Ist auch nicht wichtig. Es war für sie ideal. Sie kaufte sich dort ein Cottage am Waldrand und war glücklich.«
»Womit verdiente sie ihr Geld?«
»Sie arbeitete als Privatgelehrte. Schrieb Gutachten oder schreibt sie noch. So genau bin ich nicht informiert. Jedenfalls brach sie den Kontakt zur normalen Welt ab.«
»Auch zu Ihnen?«, fragte Bill.
»Ja, so gut wie.« Judy strich über ihr Gesicht und schüttelte dabei den Kopf. »Aber ich ließ mich nicht einschüchtern. Alice ist und bleibt meine Schwester. Ich wollte sie nicht aufgeben. Deshalb bin ich einmal überraschend zu ihr gefahren. In der Vollmondphase«, fügte sie noch leise hinzu.
»Gut. Und dann?«
»Es war schlimm, Mrs. Conolly, sehr schlimm. Ich kam im Hellen an, da ging es noch, auch wenn Alice sich verdammt nervös mir gegenüber zeigte. Sie wollte mich so schnell wie möglich wieder loswerden. Ich sollte fahren, aber den Gefallen tat ich ihr nicht. Ich hielt sie auf, und ihre Nervosität nahm immer mehr zu. Es war mir nicht möglich, sie davon abzubringen, denn da steckte eine Kraft in ihr, die ich nicht begreifen kann. Ich hatte vorgehabt, über Nacht zu bleiben, aber das war nicht
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