1169 - Satans Kind?
Er wurde dabei größer und wollte die Decke erreichen, was ihm auch gelang. Innerhalb des jetzt langen Körpers arbeitete es, als wäre eine Maschine in Gang gesetzt, die ihre Tätigkeit lautlos vollzog.
Der Schatten bekam einen Körper. Er war nicht mehr zweidimensional, sondern erlebte die neue, die dritte Dimension, die sich zu den beiden anderen gesellte. Unter Zuckungen entstand das neue Geschöpf, das einen Körper bekam und schließlich so aussah wie ein normaler Mensch.
Zumindest was die Gestalt anging. Es gab Arme, Beine, einen Kopf, und dazu gehörte auch das Gesicht.
Nein, mehr eine Fratze.
Dunkel und trotzdem zu sehen. Wie tief gebräunt. Ein Gesicht, in das sich Furchen wie Gräben hineingegraben hatten, in denen die Dunkelheit lauerte, sodass die Gesichtsfurchen fast wie schmale Canyons wirkten. Hinzu kam ein breiter, irgendwie widerlicher Mund, wie ihn nur ein Zyniker haben konnte. Er war verzogen, stand dabei halb offen, und in diesem weichen Viereck tanzte eine rötlich schimmernde Zunge. Sie wies die gleiche Farbe auf wie die der Augen, die sich auf Julia richteten.
So also sieht der Vater aus! Das ist er! Es gibt keine andere Möglichkeit mehr!
Muriel saß auf der Bettkante wie angegossen. Sie wagte nicht einmal mehr, weiter zu denken. In ihrem Kopf brummte es. Sie wusste auch nicht, ob das, was sie hier erlebte, in die Realität gehörte oder ein böser Traum war. Alles war so anders geworden. Hätte sich über ihr ein Himmel abgemalt, sie hätte sich nicht gewundert, wenn er eingestürzt wäre. Für sie war alles möglich.
Sie konnte nicht sagen, ob die Gestalt Haare besaß oder nicht. Wenn, dann lagen sie ganz dünn auf dem Kopf und sahen aus wie ein rabenschwarzer Schatten.
Das also war der Teufel!
Ja, das musste er sein. Muriel hatte sich über ihn nie große Gedanken gemacht. Sie hatte auch nie direkt an den Teufel geglaubt, ebenso wenig wie an Gott. Sie hatte beides hingenommen wie die meisten Menschen auch, und sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht.
Jetzt begann sie zu zittern. Sie spürte eine Kälte wie selten. Sie kam Muriel auch nicht normal vor.
Auch wenn das Fenster nicht geschlossen war, von draußen jedenfalls drang sie nicht herein. Sie wurde in dieser verdammten Zelle geboren, und da gab es nur eine Gestalt, die sie abgab.
Muriel schüttelte den Kopf. In ihrem Magen rumorte es. Kalter Schweiß lag auf dem Körper. Als sie Julia einen Blick zuwarf, entdeckte sie deren verzückten Gesichtsausdruck. So konnte nur jemand schauen, der bis über beide Ohren verliebt war.
Aber in ihn?
Julia stand in dem Augenblick auf, als sie das Nicken der fremden Gestalt sah. Es lag nichts Unsicheres mehr in ihren Bewegungen. Sie reagierte jetzt so wie jemand, der nur auf ein bestimmtes Ereignis gewartet hatte.
Muriel Sanders dachte gar nicht daran, ihre Freundin zurückzuhalten. Julia musste gehen. Es war ihre Bestimmung. Sie hatte Muriel vergessen und warf ihr nicht mal einen Seitenblick zu.
Sie war aufgrund ihres Zustands immer etwas schwerfällig gegangen. Das hatte sich jetzt geändert.
Leichtfüßig ging sie den Weg zwischen den beiden Betten entlang auf die Tür zu, wo ihr Geliebter wartete.
Das Lächeln auf ihrem Gesicht blieb. Sie flüsterte etwas vor sich hin. Die Worte selbst verstand Muriel nicht. Es hätte sie nicht gewundert, wenn der andere Julia in die Arme genommen hätte und mit ihr durch die geschlossene Tür verschwunden wäre. Dem Teufel musste man schließlich alles zutrauen.
Bevor Julia die Gestalt endgültig erreicht hatte, warf sie sich nach vorn und in die Arme hinein. Sie stöhnte dabei wohlig auf und schmiegte sich an ihn.
Für eine Weile blieben sie so stehen. Julia genoss die Umarmung. Der andere strich mit seinen Händen über ihren Rücken hinweg. Muriel sah diese Hände, die lange Finger mit dunklen Nägeln hatten. Sie konnte sich gut vorstellen, dass sich diese Finger sehr leicht in Krallen verwandelten, die brutal in die Haut hineinstachen und sie aufrissen. Beim Teufel war alles möglich.
Sah er tatsächlich so aus? Wo waren die Hörner? Wo verbarg er dann seinen Klumpfuß?
Sie hatte ihn nie anders gesehen wie auf diesen mittelalterlichen Bildern, als die Menschen sich eine derartige Vorstellung von dem Höllenherrscher gemacht hatten. Dazu hätte seine Haut noch mit Fell bedeckt sein müssen, aber auch das traf nicht zu. Bei dieser Person war sie glatt. Beinahe schon ölig.
Sie blieben nicht mehr lange in der Umarmung. Es war der
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