1176 - Der unheimliche Leichenwagen
verflucht.
Carina Thomas schossen die Gedanken und Vermutungen wie Blitze durch den Kopf. Im Licht der Scheinwerfer sah sie das Geschehen wie auf einem Präsentierteller, aber sie war einfach nicht in der Lage, es auch zu begreifen.
Sie hatte die unheimliche Gestalt mit der Mönchskutte zunächst nicht für einen normalen Menschen gehalten. Nun aber musste sie die Meinung revidieren, denn ein Gespenst, oder was immer es war, konnte kein Auto fahren.
Und ihr Freund Rio war nicht in der Lage, sich zu wehren. Genau das wunderte sie noch mehr, denn er gehörte zu den Menschen, die sich schon durchsetzen konnten, auch körperlich.
Davon erlebte sie in dieser schrecklichen Zeitspanne nichts. Rio war wie gelähmt. Er hatte auch nicht auf ihre Rufe reagiert und tat nichts, als eine graue Klaue ihn anfasste. So hart, dass er nicht entkommen konnte.
Carina fühlte sich, als wären unsichtbare Hände dabei, ihr den Magen zuzudrücken. Noch immer sah sie das Geschehen wie in einem bösen Traum, und sie fuhr zusammen, als plötzlich der Motor gestartet wurde. Genau das Geräusch hatte sie vernommen, als sie auf dem Feldweg gestanden hatten. Rio hatte es nicht für bare Münze genommen, nun musste er erleben, dass man ihm keine Chance mehr ließ. Steif wie eine Puppe oder wie eingefroren hockte er auf dem Beifahrersitz. Carina sah ihn im Profil. Sein Gesicht wirkte dabei wie in Stein verwandelt.
Der Leichenwagen fuhr an. Er wurde in eine enge Kurve hineingelenkt. Auf dem kleinen Podest begann der Sarg zu schwanken, aber er fiel nicht herunter.
Sie fuhren weg!
Niemand kümmerte sich um Carina, die sich wieder in ihren kleinen Wagen zurückgezogen hatte und noch immer ungläubig durch die Scheibe schaute.
Sie blickte auf das Heck des Leichenwagens. Aus dem Auspuffrohr quollen Abgase in dicken Wolken und schlichen sich in das Licht hinein.
Wie angebacken saß Carina auf ihrem Sitz und starrte dem Fahrzeug nach, das sich immer weiter von ihr entfernte. Es dauerte nur Sekunden, bis die Rücklichter hinter der Kurve verschwunden waren.
Dann hörte sie nur noch das ferne Tuckern des Motors, das aber auch irgendwann verklang, als wäre es vom dichten Gebüsch aufgesaugt worden. Zurück blieb der gelbe Fiat. Zurück blieb Carina, die zwar starr saß, aber vom Kopf bis zu den Zehen zitterte, als hätte sie ein Schüttelfrost überkommen.
Die gesamte Szene hatte sie genau mit ansehen können. Und sie war geschockt. Nun ließ der Schock allmählich nach. Sie war wieder in der Lage, alles genau zu empfinden. Die normale Umgebung tauchte auf, als hätte sie eine dichte Nebelwelt verlassen.
Um sie herum breitete sich zwar die Dunkelheit der Nacht aus, aber sie steckte voller Gerüche, die der Boden und auch die Gewächse abgaben. Die kannte Carina. Erst jetzt fühlte sie sich wieder in die Wirklichkeit zurückgerissen, und sie merkte auch, dass Tränen aus ihren Augen rannen.
»Das… das… kann doch alles nicht wahr sein«, flüsterte sie unter Tränen. Sie kniff sich in den linken Oberarm.
Ja, sie hatte nicht geträumt. Deutlich war der Schmerz zu spüren, den dieses Kneifen verursacht hatte.
Kein Traum also. Es war die brutale Realität. Ihr Freund Rio war in den Leichenwagen gestiegen und weggeschafft worden. Daran gab es jetzt nichts mehr zu deuteln.
Dennoch blieb sie starr sitzen. Jetzt zu fahren, wäre ihr nicht möglich gewesen. Carina zitterte einfach zu stark. Sie beugte ihren Kopf vor, drückte ihn gegen den oberen Lenkradring und weinte hemmungslos. Dass sie mitten auf der Straße parkte, war ihr nicht bewusst. Aber die Strecke zwischen Langster und Beckton war in der Nacht sowieso kaum befahren.
Dass Zeit verstrichen war, wusste Carina, nur nicht, wie viel vergangen war, als der Tränenstrom endlich versiegte und sie den Kopf wieder anhob. Sie musste sich zunächst die Augen frei wischen, um sehen zu können. Was sie sah, war wenig genug. Vor ihr lag die Straße, die ins Dunkel hineinführte wie in den Abgrund der Hölle.
Hölle!
Dieser Begriff klemmte plötzlich in ihrem Kopf fest. Der Kuttenträger war ihr auch wie der Teufel vorgekommen, um Rio in die Hölle zu holen.
In den letzten Minuten war für Carina ein Weltbild zusammengebrochen. Sie hatte bisher immer in der Realität gelebt. Mit all den Vor- und auch Nachteilen. Nur aber war von dieser Realität ein Vorhang zur Seite gezogen worden. Es hatte ein Loch gegeben oder einen langen Riss, und durch diese Lücke war - das Grauen in ihre Welt
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