1177 - Der Weg in die Unterwelt
die oberhalb des Gewässers eine grünliche Farbe erhielt, in die aber auch dunkle Schatten hineingriffen wie lange Hände.
Jenseits des Gewässers und oberhalb der Baumkronen war der Himmel noch heller. Dort malte sich ein bleicher Streifen ab, der noch den rötlichen Schimmer der untergehenden Sonne verwahrte. Aber auch er würde bald verschwunden sein, dann hatte die Dunkelheit den Kampf gewonnen und würde denjenigen Schutz geben, die sie liebten.
In dieser Umgebung hatte sich eine ungewöhnliche und bedrückende Atmosphäre ausgebreitet.
Wenn ich darüber nachdachte, kam es mir vor, als würde alles in der Nähe den Atem anhalten, um ihn irgendwann wieder auszustoßen.
Die Stille konnte man mit dem Wort bleiern umschreiben. Selbst das Summen der Mücken war nicht mehr zu hören. Auch kein Quaken der Frösche, sondern nur das leise Gluckern der Wellen, die unter dem Steg ausliefen.
Bill, der sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte und mir im Sitzen den Kopf zudrehte, zog die Augenbrauen zusammen. »Wenn ich ehrlich sein soll, gefällt mir das nicht.« In der Stille klang seine Stimme ganz anders. Auf eine gewisse Art und Weise lauter.
»Mir auch nicht.«
»Wie lange willst du hier warten?«
Das war eine gute Frage. Ich wusste es selbst nicht. Es trieb mich irgendwie hinaus auf den See, aber den Nachen einfach ohne Ziel über das Wasser zu lenken, war auch nicht das Wahre.
»Nun?«
»Es muss was passieren. Ich bin davon überzeugt, dass wir das erleben, was uns Melody von ihren Träumen berichtet hat.«
»Dann müsste ja bald das Boot erscheinen.«
»Du wirst lachen, damit rechne ich. Schließlich gibt es wieder zwei Menschen, die abgeholt werden müssen.«
»Für die Unterwelt? Verzichte!«
»Willst du zurückfahren?«
»Ha, ha. Nein, aber ich gehe nicht gern freiwillig in die Hölle. Damit habe ich schlimme Erfahrungen gemacht.«
Bill erntete von mir keinen Widerspruch, denn auch ich kannte seine schrecklichen Erlebnisse.
Natürlich gingen mir Mutter und Kind nicht aus dem Kopf. Grace Turner war zum Skelett geworden. Das hatte ich gesehen. Für Melody hatte ich ebenfalls nicht viel Hoffnung, und ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg. Aber ich hörte auch Bills Stimme.
»Ich will ja nicht viel sagen, John, aber dennoch, ich glaube, da vorn tut sich was.«
Er meinte damit das Gewässer, über das ich sofort hinwegschaute und zugeben musste, dass mein Freund sich nicht geirrt hatte. In der Mitte des Sees hatte sich tatsächlich etwas verändert.
Es war noch keine Mauer, die den freien Blick einschränkte, aber etwas war dabei, zu entstehen.
Über dem dunklen Wasser bewegte sich etwas Helles. Ich sah es als einen dünnen Streifen an, der möglicherweise aus dem Wasser gestiegen war, immer mehr Nachschub erhielt und sich ausbreitete.
Es bildete sich eine Wolke.
Nicht aus Mücken, sondern aus Feuchtigkeit. Eine Nebelwolke.
»Wie gehabt!«, flüsterte ich scharf.
Bill drehte den Kopf in meine Richtung. »Aber ein Boot ist nicht zu sehen.«
»Nein, nur der Nebel. Ich bin sicher, dass er sich ausbreiten wird.«
»Willst du so lange warten, bis er uns erreicht hat?«
»Nein, auf keinen Fall. Wenn so etwas entsteht, macht es mich immer neugierig. Du kannst es drehen und wenden, Bill. Ich habe den Eindruck, dass der Nebel etwas verbirgt. Noch verbirgt.«
»Ein Boot. Lebende Skelette, eine blonde Frau, die gefesselt wurde, so hat es uns Melody erzählt. Aber ich sehe nichts davon.«
»Das wird sich ändern.«
»Warten wir?«
»Nein.« Ich hatte mich längst entschlossen. »Man kann nie wissen, wie stark sich der Nebel ausbreitet und ob er uns überhaupt erreicht. Aber wir werden ihn erreichen.«
»Wie schön. Kannst du Nachen fahren?«
»Habe ich schon als Junge geübt.«
»Dann fahr mir mal was vor.«
Ich balancierte zum Heck hin. So behutsam ich mich auch bewegte, es war nicht zu vermeiden, dass der Nachen leicht schaukelte. Bill ging auf Nummer Sicher und legte sich auf den Rücken. Einen Kommentar gab er dabei nicht ab.
Die lange Stange war das Steuer. Ich stach sie ins Wasser und erreichte auch sehr bald den Grund, in dem sie sich für einen Moment regelrecht verhakte. Trotzdem gelang es mir, den Nachen abzustoßen. Es stand für mich auch fest, dass dieses Gewässer nicht sehr tief, war. Sonst hätte die Stange nicht eingesetzt werden können. Bevor sich der Nachen in Bewegung setzte, musste ich zuerst die Stange gegen den Grund drücken, um das »Boot« abzustoßen.
Nach
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