1179 - Der Killerzwerg
landete sie auf dem nassen Boden, drehte sich herum und hatte für einen Moment das Gefühl, die Beine nicht mehr bewegen zu können.
Es ist eine Zerrung!, schoss es ihr durch den Kopf. »Verdammt noch mal, eine Zerrung!«
Was das bedeutete, war ihr klar, aber sie wollte nicht darüber nachdenken. Es war nur wichtig, dass sie dieser verfluchte Zwerg nicht in die Hände bekam.
Ihr fiel ein, dass die Handtasche im Wagen zurückgeblieben war. In ihr befand sich die kleine Sprühflasche mit dem Gas, die sie immer für alle Fälle bei sich trug.
Gina hatte sich so gedreht, dass sie die gelaufene Strecke zurückschauen konnte. Es war dunkel.
Selbst ihren Wagen ahnte sie mehr als dass sie ihn sah. Aber sie entdeckte auch die Bewegung der Gestalt dicht vor dem Fahrzeug.
Er kam.
Er hatte die Verfolgung aufgenommen.
Jetzt wäre für Gina Zeit gewesen, weiterzurennen. Aufgrund der Zerrung war es nicht möglich. Es blieb nur eine Chance. In den Wald zu kriechen und sich möglichst gut zu verstecken. Alles andere konnte sie vergessen.
Gina bewegte sich kriechend über die Straße. Sie war jetzt froh, eine Jeans zu tragen. Der Stoff war fest genug. So leicht würde er nicht reißen.
Zuerst erreichte sie das Unterholz. Wie ein schlankes Tier schob sie sich dort hinein. Gina spürte den Widerstand kleiner Zweige, das Gras, die Blätter, die nass gegen ihr Gesicht klatschten. Wasser befeuchtete ihre Lippen. Der Boden war schmierig, doch das alles störte sie nicht. Wichtig war, dass sie diesem verfluchten Zwerg entkam.
Ein Graben tat sich auf. Unter altem Laub war er versteckt, und Gina spürte, wie sie in das Wasser sackte, das den Graben zur Hälfte füllte.
Es machte ihr jetzt auch nichts mehr aus. Wie sie aussah, spielte keine Rolle. Im Graben blieb sie liegen.
Plötzlich dachte sie wieder an ihr Handy. Sie musste es noch mal versuchen und den Bruder anrufen. Vom Zwerg hörte sie nichts. In dieser feuchten Deckung liegend hoffte sie darauf, eine Verbindung zu bekommen. Sie hatte Glück, denn Nick meldete sich.
»Ich bin es.«
»Du, Gina. Ich wollte gerade kommen und zu dir…«
»Ja, gut, aber ich will dir noch was sagen. Ich werde verfolgt.«
»Von wem?«
»Von einem Zwerg!«, flüsterte sie.
»Gina, bitte. Du hast…«
»Hör auf, Nick!«, keuchte sie in den flachen Apparat, »es ist, wie ich es dir gesagt habe. Ich werde von einem mordlüsternen Zwerg verfolgt. Bitte, lach nicht, aber es ist so. Er verfolgt mich. Er will mir ans Leben. Ich weiß nicht, warum.«
»Wo bist du jetzt?«
»Ich habe mich im Unterholz versteckt und kann nur hoffen, dass er mich nicht findet.«
»Aber das ist doch Wahnsinn, Gina!« schrie Nick.
»Ja, Nick, das ist auch Wahnsinn. Nur ist es leider auch eine Tatsache. Ich kann nichts dagegen tun. Ich weiß auch nicht, was ich gemacht habe, aber ich ersticke fast an dieser Scheiß-Angst. Das ist schlimmer als in einem Horror-Film. Es ist auch so echt, verstehst du? So schrecklich echt.«
»Gut. Was soll ich tun?«
»Alarmiere die Polizei.«
»Alles klar, mache ich.«
»Dann drück mir die Daumen. Ich liebe dich, Brüderchen.« Sie sprach nicht mehr weiter und ließ das Handy wieder verschwinden. Auch Flüstern hätte man in der Stille hören können, denn der Regen rieselte so gut wie lautlos aus den Wolken.
Gina Nolin verhielt sich still, was ihr wirklich nicht leicht fiel. Es war wahnsinnig schwer, den Atem unter Kontrolle zu halten. Am liebsten hätte sie losgekeucht. Zudem brannte es in ihrem rechten Oberschenkel wie Feuer. Besonders an der Innenseite. Wenn sie gehen konnte, dann würde sie nur noch humpeln, und dann war sie auch für einen mordlüsternen Zwerg eine leichte Beute.
Da war es schon besser, wenn sie sich im Straßengraben versteckt hielt, auch wenn er zur Hälfte mit brackigem Wasser gefüllt war. Eine Erkältung konnte auskuriert werden, sein Leben konnte man nur einmal verlieren.
Warten…
Sekunden verstrichen.
Sie hörte das leise Rieseln des Regens. Tropfen fielen gegen die Blätter, sammelten sich dort, rannen nach unten und erreichten ihr Gesicht und ihren Körper. Sie leckte Wasser von den Lippen und schielte nach oben.
Aus der Höhe war sie nicht so leicht zu entdecken. Die Zweige mit ihren Blättern bildeten über ihrem Kopf so etwas wie ein natürliches Dach, und darüber war sie froh.
Aber sie traute dem Zwerg jegliche Raffinesse zu. Er würde nicht aufgeben. Einer wie er roch seine Opfer, und dann würde er sich über sie stürzen.
Offen
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