1188 - Wartesaal zum Jenseits
er ihn jetzt besucht.«
Das Geschehen wurde immer rätselhafter. Wir hatten beide unsere Schwierigkeiten, aber wir wussten auch, dass in der Welt nichts ohne Grund geschah. Dieser veränderte Boris Long hatte bestimmt nicht nur einen simplen Spaziergang gemacht. Dass er hier am Grab seinen Platz gefunden hatte, musste einen Grund haben.
»Es kann nur dieser Verwandte sein, John.«
»Man müsste ihn fragen können.«
In diesem Augenblick drehte der Knöcherne den Kopf. Wir schauten direkt in dieses bleiche und mittlerweile etwas schmutzig gewordene Gesicht aus Knochen hinein. Wir sahen in diese Öffnungen, bei denen besonders der große Mund auffiel, und in seinem Innern wurde tatsächlich eine Antwort geboren.
»Es ist meine Schuld…«
Suko hatte den Satz verstanden, und ich hatte mich ebenfalls nicht verhört. Uns lief schon ein Schauer über den Rücken.
»Es ist meine Schuld…«
Auch die Wiederholung machte uns nicht schlauer. Irgendetwas musste ihn als Skelett bedrücken und hatte ihn wahrscheinlich auch als Mensch so schrecklich leiden lassen, dass selbst der Tod dies nicht hatte löschen können.
»Ich werde büßen…«
»Ja, das wirst du auch!«
Wieder wurden wir überrascht, denn keiner von uns hatte die Antwort gegeben.
Wir fuhren herum, aber wir sahen keinen. Dafür war uns die Stimme der Frau noch in Erinnerung, und sie hatte so ungewöhnlich hell und klar geklungen.
»Ich habe meinen Vater umkommen lassen. Ich war nicht da, als er mich brauchte. Er hat mir noch versprochen, dass alles im Leben seinen Preis hat. Und den werde ich jetzt bezahlen müssen. Ich gehe zu ihm…«
Es hörte sich für uns an, als wollte er in das Grab seines Vaters hineinklettern. Das passierte nicht.
Es war das Licht, das ihn wieder erfasste.
Als grelle Kugel schwebte es plötzlich über dem Grab und nahm Boris Long in die Mitte. Es ging alles irrsinnig schnell. Wir konnten nichts unternehmen, denn innerhalb von zwei, drei Sekunden gab es das Skelett nicht mehr.
Dafür lag der helle Staub auf dem Grab. Wie hingestreuter Puder, und das Licht hatte sich ebenfalls zurückgezogen. Suko und ich waren überrascht und ärgerlich zugleich. So schnell und auch so klassisch hatte man uns selten reingelegt. Aber damit hatten wir natürlich nicht rechnen können.
»Der kehrt nicht mehr zurück«, sagte Suko leise.
Ich stimmte ihm zu, während ich mit meinen Blicken die Umgebung absuchte. »Es war auch eine Rache, Suko. Eine perfekte Rache durch das Licht.«
»Oder durch eine Heilige.«
»Beides.«
Die Stimme war hell, sie war klar, sie erreichte uns auch überdeutlich. »Ja, es ist eine Abrechnung gewesen, denn auch die Heiligen sind nicht nur gut. Sie sind gekommen, um zu bestrafen. Ich habe es so gehalten. Ich habe den Wartesaal des Jenseits verlassen, weil hier auf der Erde noch Aufgaben zu lösen sind. Hütet euch davor, mich stoppen zu wollen. Dringt nicht tiefer in meine Welt ein, denn sie könnte auch für euch gefährlich werden…«
Mehr hörten wir nicht. Die unsichtbare Sprecherin ließ die Worte verklingen, und ich hatte den Eindruck, als hätte sich ein Vorhang aus Nebel zugezogen.
Wir standen neben dem Grab in der Stille, schauten auf den hellen Puder oder das Knochenmehl, das von einem Skelett zurückgeblieben war, und erlebten wieder mal, welche Phänomene doch auf dieser auch so aufgeklärten Welt noch existierten.
Suko schlug mir leicht auf die Schulter. »Okay, Alter, gehen wir wieder zurück.«
»Zum Grab?«
»Wohin sonst?«
Es war nur ein kurzer Weg. Wir schwiegen und schauten uns nur um. Es war klar, dass sich unsere Gedanken um diese geheimnisvolle Heilige drehten, aber sie ließ sich nicht blicken. Sie hatte den Friedhof als Versteck genutzt. Oder lag noch im Grab. Das war auch möglich, dass sie von dort aus mit uns Kontakt aufgenommen hatte. Wir würden es herausfinden und waren nicht überrascht, als wir vor ihrem Grab stehen blieben und es leer fanden.
Keine Spur mehr. Nur der offene Sarg stand dort, aber die Heilige hatte sich in ihre neue Welt zurückgezogen.
»Wohin?« fragte Suko.
Ich zuckte mit den Schultern. »Ein Friedhof ist groß genug, denke ich.«
Mein Freund lachte leise. »Willst du dich mit dieser Antwort zufrieden geben?«
»Nein.«
»Dann denk mal nach, wo wir mit der Suche anfangen sollen.«
Ich legte die Stirn in Falten und nickte vor mich hin. »Ja«, sagte ich leise, »manchmal muss man nachdenken. Vor allen Dingen, wenn es sich um eine Heilige
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