12 Stunden Angst
Laurel hatte ihn kaum jemalsunrasiert gesehen; die schwarzen Bartstoppeln verliehen ihm eine Aura der Verzweiflung.
»Wenn in einer Ehe ein Partner stirbt, geht der andere durch die Hölle«, sagte Warren. »Manche Menschen verlassen einander während solcher Phasen. Sie lassen sich scheiden. Sie haben sexuelle Probleme … Manchmal möchte der kranke Partner Sex, doch der gesunde kann es nicht ertragen. Er kann nicht mehr intim sein mit diesem Schatten von einer Person, die er einst gekannt hat. Krankheit und Tod widern uns an. Ich wollte nicht, dass du an so etwas denkst, bevor es unausweichlich ist.« Er ballte die Fäuste. »Und ich hatte nicht vor, auf diesen Tag zu warten.«
»Wie meinst du das?«
Er blickte sie an, ohne zu blinzeln. »Denk darüber nach.«
Sie fühlte sich überfordert. Sie hatte die Regeln der Logik noch nicht gelernt für eine Welt, in der der Tod unmittelbar bevorstand. »Ich weiß es nicht.«
»Du hast mich gefragt, warum ich den Revolver gekauft habe.«
Ihr drehte sich der Magen um. »O Gott, Warren. Das würdest du nicht tun.«
»Ich will nicht, dass die letzte Erinnerungen meines Sohnes an seinen Vater die an eine leere Hülle von einem Mann ist, der nicht mehr reden, sich nicht mehr erinnern und nicht einmal mehr ohne fremde Hilfe essen kann.«
»Sprich nicht so, Warren.«
»Warum nicht? Willst du vielleicht so tun, als würde es nicht so enden?«
»Ich kann nicht glauben, dass du die ganze Zeit völlig allein damit gewesen bist.«
»Jeder ist allein mit seinem Tod. Manchmal sind Menschen um einen herum, aber helfen kann dir niemand.«
»Du irrst dich«, beharrte Laurel und hoffte zugleich, dass ihr Glaube nicht völlig naiv war. »Du musst nur zulassen, dass jemand dir hilft.«
»Ich kann nicht. Ich muss auf meine Weise damit fertig werden.«
»Das ist verrückt! «
»Nein. Ich habe nur nicht vorhergesehen, dass du mich betrügst. Ich hätte es sehen müssen, aber ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Ist es nicht eigenartig? Ich habe meine letzten Monate auf dieser Erde mit dem Versuch zugebracht, für jemanden zu sorgen, der vor langer Zeit aufgehört hat, mich zu lieben.«
»Das ist nicht wahr!«
Er blickte ihr in die Augen, die bar jeder Illusion waren. »Ach nein?«
»Ich habe dich immer geliebt, Warren! Ich wollte doch nur, dass du mich in dein Leben lässt, mich dich lieben lässt … aber das konntest du nicht. Ich glaube nicht einmal, dass es deine Schuld ist. Ich glaube, dein Vater … er wollte dich hart machen, und er hat so gute Arbeit geleistet, dass du nicht weich sein kannst, nicht verwundbar sein kannst, selbst wenn du es willst. Und wenn jemand sich mit einem so dicken Panzer umgibt, findet die Liebe keinen Weg hinein.«
»Oder heraus, stimmt’s?«
Sie nickte traurig.
»Und jetzt?«
Laurel ließ den Kopf hängen, während sie nach Worten suchte, ihm zu erklären, was sie empfand. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich leise. »Wir müssen zusammenhalten und versuchen, diese Krankheit irgendwie zu besiegen.«
Er lachte auf. »Du kannst es nicht lassen, wie? Du kannst nicht aufhören, so zu tun, als wäre die Welt eine andere, als sie in Wirklichkeit ist.«
»Wo es Leben gibt, da gibt es Hoffnung. Es mag abgedroschen klingen, aber ich glaube fest daran. Und du bist ein Kämpfer!«
Er fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle. »Niemand besiegt diese Krankheit, Laurel. Dazu bräuchte es ein Wunder. Und es gibt eine Menge Menschen auf der Erde, die ein Wunder vieleher verdient hätten als ich. Außerdem, wozu sollte es gut sein? Du liebst jemand anderen.«
Sie starrte ihn an. Sie konnte und wollte nicht mehr lügen. »Ich weiß es nicht. Es ist, als wäre die ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. Ich hatte keine Ahnung, wie die Dinge wirklich stehen.«
»Und jetzt, wo du weißt, dass ich sterben werde, liebst du mich plötzlich wieder?«
Was konnte sie ihm darauf antworten?
Warren neigte den Kopf zur Seite, als lausche er einem schwachen Geräusch in weiter Ferne. »Es ist zu spät, Laurel. Das ist mir jetzt klar. Viele Optionen bleiben nur für eine Zeit lang offen, dann sind sie verstrichen. Wenn man nicht handelt, solange die Tür offen ist, schließt sie sich möglicherweise für immer. So ist das Leben. Wenn du einen Traum hast, solltest du versuchen, ihn zu verwirklichen, solange du jung bist, sonst ist deine Chance vertan. Mit fünfunddreißig wirst du kein Weltklasse-Sprinter mehr. Und mit fünfundvierzig wird
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