12 Stunden Angst
Partner sind«, erwiderte Warren mit einem ironischen Grinsen. »Wir teilen alles miteinander, oder etwa nicht?«
13
N ell stand in der Schlange vor einem Geldautomaten in der Planter’s Bank, als sie eine so lebhafte Vorahnung hatte, dass ihr schwindlig wurde. Wie immer man es nennen wollte – Hellseherei, ESP, Vision –, sie wusste mit einem Mal, dass in der Praxisirgendetwas Furchtbares passiert sein musste. Irgendetwas an Vidas Verhalten hatte sie zutiefst erschüttert, ohne dass es ihr in jenem Moment bewusst geworden wäre. Ihre jetzige Reaktion kam verspätet – wie bei jemandem, der in der Nacht an einem Schlag gegen den Schädel verstarb, den er bereits am Tag abbekommen hatte.
Vida war zu ruhig gewesen. Die Situation geriet mehr und mehr außer Kontrolle, und doch war sie herumgelaufen und hatte Witze gemacht wie ein abgestumpfter Beerdigungsunternehmer bei einem Begräbnis.
Nell verließ die Bank, eilte nach draußen zu ihrem Wagen und fuhr zurück zur Praxis, so schnell sie es wagte. Sie bog in den Angestelltenparkplatz ein, auf dem nur Austers Jaguar und Vidas alter Pontiac standen. Sie rannte zur Hintertür, schloss auf und huschte leise ins Innere.
Die Tür zum Untersuchungszimmer Nummer sechs stand ein wenig offen. Nell sah Füße in Seidenstrümpfen auf dem Untersuchungstisch. Also waren noch Patienten da.
Doch sie konnte nirgendwo Personal entdecken. Sie kam an der Röntgenabteilung vorbei, doch Sherry saß nicht hinter dem Schalter. Das Gleiche im Labor. Keine Spur von JaNel, und die Lichter waren aus. Wenigstens die Blutanalysatoren liefen noch.
Ein eisiges Frösteln durchlief Nell von Kopf bis Fuß, und ihre Schultern zuckten, als wäre plötzlich eine statische Entladung durch sie hindurchgefahren. Das Gebäude erschien ihr fremd, als hätte sie eine Praxis betreten, die nur aussah wie ihr Arbeitsplatz.
Mit einem Mal wurde Nell der Grund für ihre Nervosität bewusst: Die Computer liefen nicht. Sie war noch nie in der Praxis gewesen, wenn die Computer abgeschaltet waren. Ohne das beständige Summen und Rauschen der Ventilatoren wirkte die Praxis wie ein vollkommen anderer Ort. Die Geräte verliehen den Räumen etwas Warmes, Lebendiges, wohingegen sie jetzt kalt und tot wirkten.
In der Praxis hatte es immer nach medizinischem Alkohol gerochen, doch als Nell sich nun dem Empfangsbereich näherte, wurde der beißende Geruch schier überwältigend. Und er war durchsetzt von etwas anderem …
Benzin.
Nell gelangte zur Rezeption und sah ihre Schwester Vida vor einem Aktenschrank. Vida schüttete etwas in die offene Schublade, über sämtliche Patientenkarteien. Alkohol, erkannte Nell. Reinigungsalkohol aus einer der braunen Plastikflaschen, die sie in den Untersuchungszimmern benutzten. Zwanzig weitere Schubladen standen bereits offen.
»Vida …?«, fragte Nell leise.
Vida zuckte zusammen, richtete sich auf und fuhr herum, doch als sie sah, dass es ihre Schwester war, entspannte sie sich.
»Was tust du da?«, fragte Nell.
»TCB, Honey. Wie Elvis immer so schön gesagt hat.«
»TCB?«
Vida lachte auf. » Taking care of business. Ich kümmere mich ums Geschäft. Manchmal vergesse ich, wie viel jünger du bist.«
»So viel jünger nun auch wieder nicht«, erwiderte Nell verängstigt, ohne recht zu wissen warum.
»Ein ganzes Lebensalter, Baby Girl. Ich hatte dir doch gesagt, dass du verschwinden sollst.«
»Ich hatte so ein komisches Gefühl … wie ich es manchmal habe, du weißt schon.«
Vida starrte auf die offene Schublade und seufzte.
Nells Blick huschte durch den Raum. Was sie sah, brachte sie an den Rand einer Panik. Überall standen leere Alkoholflaschen, die meisten in einer Reihe am Boden neben ihrem Computer. Andere lagen auf den offenen Schubladen. Eine rote Gasflasche stand direkt neben Vidas Schreibtisch. Wenn jemand ein Streichholz hier drin anzündete, würden sie alle in einem gigantischen Feuerball sterben.
»Warum tust du das?«, fragte Nell mit zitternder Stimme.
»Es gibt keine andere Möglichkeit.« Vida öffnete eine weitereAlkoholflasche und schüttete den Inhalt in eine Schublade voller Patientenunterlagen. »Wir haben Totalausverkauf. ›Alles muss raus.‹«
Ihr Lachen hatte einen hysterischen Unterton, der Nell erschreckte. »Warst du deshalb heute einkaufen?«
»Ja. Wir hatten nicht mehr genug Alkohol. Bei Walgreens hatten sie ihn massenweise. Ich habe ihn in einem alten Computerkarton in die Praxis geschmuggelt. Die Typen von Medicaid lassen
Weitere Kostenlose Bücher