1205 - Wer die Totenruhe stört
Averell überlegte. Im Moment war alles ruhig. Wir hielten uns auf einem normalen alten Friedhof auf, der mit grauen Grabsteinen geschmückt war. Wir spürten den leichten Wind, wir rochen auch die Feuchtigkeit und wir sahen, wie das Gras gekämmt wurde. Am Himmel turnten die Wolkenhaufen und schienen sich dabei gegenseitig zu bekämpfen, um die besten Plätze zu bekommen.
»Haben Sie sich entschieden?«, fragte Suko.
»Ja, irgendwie schon. Ich weiß nur nicht genau, was Sie für Pläne haben.«
»Wir müssen zumindest mehr über diesen seltsamen Totengeist in Erfahrung bringen.«
»Klar, da haben Sie Recht.«
»Da ist doch das Dorf der richtige Ort. Oder nicht?«
»Schon.«
»Gut. Sie stellen uns vor. Sie sorgen dafür, dass wir nicht abgewiesen werden wie Bettler, und alles andere wird sich später schon regeln.«
Suko hatte so gesprochen, dass Craig Averell nichts einwandte. Möglicherweise fühlte er sich dem Inspektor auch verpflichtet. Er hatte ihm schließlich das Leben gerettet.
»Ich fahre dann mit dem Rad. Sie können ja Ihren Wagen nehmen und mir folgen.«
Damit waren wir einverstanden. Auf dem Friedhof hatte sich nichts verändert. Da war keiner der Risse zusammengewachsen. Noch immer gab es die verdammten Fallen, und auch Averell schaute ziemlich misstrauisch in die Runde, als er sein Bike anschob.
Auch wir wandten uns ab. Unser Vauxhall stand sichtbar im klaren Licht. Er hatte seinen Platz auf der etwas erhöht vorbeiführenden Straße gefunden.
Ich wollte hingehen, als es mich erwischte.
Alles ging blitzschnell. Plötzlich riss mir jemand die Füße weg, ich verlor den Halt und merkte, dass unter mir nichts mehr war. Dann kippte ich nach vorn…
***
Alles lief wirklich so schnell ab, aber ich erlebte es auch sehr intensiv, und mir kam es in diesen Augenblicken so vor, als hätte sich in meinem unmittelbaren Sichtfeld alles verlangsamt, denn nicht nur ich kippte, ich sah auch, wie Suko wegrutschte und Craig Averell in wilder Panik und sein Rad vor sich herschiebend davonrannte, aber aus dem Gleichgewicht geriet und ebenfalls stolperte.
Noch in der Bewegung nach vorn hörte ich das Grollen. Es drang tatsächlich tief aus der Erde, und man konnte es als unheimliches Geräusch bezeichnen. Ob sich ein Erdbeben tatsächlich so anhörte, wusste ich nicht. Das Geräusch konnte ebenso aus dem Maul eines unheimlichen Wesens stammen, das sich tief in der Friedhofserde verborgen hielt.
Unter meinen Füßen war die Erde aufgerissen. Da hatte sich ein Spalt gebildet. Abstemmen konnte ich mich nicht mehr, aber ich hatte trotzdem Glück im Unglück. Es gelang mir, die Arme nach vorn zu werfen. Nicht nur sie waren gestreckt, sondern auch die Hände. Mit ihnen und mit den Unterarmen umfing ich den vor mir stehenden und auch genügend schlanken Grabstein, den ich umklammerte wie einen lebensrettenden Anker. Er war meine Sicherheit, denn ich hatte die Standfestigkeit verloren. Meine Füße waren im Schacht verschwunden.
Das sah ich zwar nicht, doch es war genau zu spüren.
Obwohl der Stein nicht eben gerade stand und mir entgege ndrückte, hatte er trotzdem seinen Halt nicht verloren, und ich hoffte, dass er beim nächsten Erdstoß nicht zu wackeln begann.
Vor mir sah ich nur den Stein. Was mit Suko und Averell passiert war, lag außerhalb meiner Sichtweite. Ich wollte auch so schnell wie möglich aus dieser Lage entkommen. Bevor ich meine Füße aus der Spalte hervorzug, spürte ich noch etwas anderes. Eine kalte Masse wehte an meinen Beinen entlang, als wollte sie die Füße vereisen. Das war wie kaltes Gas oder eisiger Nebel, der bis zu den Knien hinreichte und die Beine fast gefühllos machte.
In meiner Lage war es mir unmöglich, den Kopf so weit zu drehen, um nach hinten zu schauen. Ich musste erst freikommen und schaffte es tatsächlich schon beim ersten Versuch, die Beine aus dem Spalt frei zu bekommen.
Der plötzliche Ruck trieb mich bis vor den Grabstein, an dem ich mir noch heftig das Kinn stieß, was mir in diesen Auge nblicken überhaupt nichts ausmachte, denn ich war frei.
Mein Körper berührte weiterhin den Grabstein, als ich mich umdrehte. Dabei hörte ich mich selber keuchen. Mein Herz schlug heftig, und dieser Rhythmus beschleunigte sich noch, als ich den Blick zurück und auch zugleich nach unten warf.
Der plötzliche Schreck ließ mich zusammenfahren, denn ich hatte großes Glück gehabt. Der Spalt war nicht weniger breit als der, in dem Craig Averell gesteckt hatte. Er hätte
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