1206 - Das Blut der schönen Frauen
Gräser wuchsen, die mit ihren Spitzen beinahe schon die Decke erreichten.
Eine kleine Tischleuchte gab weiches Licht ab. Es erreichte auch die Tür, vor der Kalina stehen geblieben war. Ein großer Mensch hätte sich ducken müssen, um das Zimmer zu betreten.
Die Frau ging vor. Alexandra, die ihren Rucksack mit beiden Händen festhielt, betrat kurz nach ihr den Raum. Die Brille war etwas verrutscht.
Sie schob sie hoch, um alles klar sehen zu können und wurde angenehm enttäuscht.
Das Zimmer war normal eingerichtet. Es gab keine Pflanzen, keine Blumen, sondern ein breites Bett, einen Schrank, ein Fenster, ein Waschbecken sowie einen Tisch und einen Stuhl.
An den Wänden zeigte die Tapete gelbe Streifen, aber auch sie konnten die feuchten Flecken nicht ganz überdecken.
»Nun?«
Alexandra wusste, dass Kalina eine Antwort erwartete. Sie stand mitten im Raum, lächelte und sah sie fragend an.
»Was soll ich sagen? Ich finde es toll.«
»Und warum?«
»Ich bin kein Mensch, der Luxus braucht. Das Zimmer ist schon gut für mich. Ich habe schon anders übernachtet. Aber hier kann man, sich wohlfühlen.«
»Das freut mich.« Kalina ging auf Alexandra zu und blieb dicht vor ihr stehen. Dann tippte ein Finger gegen das Kinn der jungen Deutschen.
»Ich kenne meine Gäste. Ich weiß, dass sie nie viel Geld haben. Du brauchst auch nichts zu bezahlen, aber ich kann dir ansehen, dass du hungrig bist. Reicht eine halbe Stunde?«
»Wofür?«
»Zum Ausruhen. Danach erwarte ich dich unten zum Essen. Keine Sorge, es gibt kein Rindfleisch.«
»Das habe ich auch nicht erwartet.« Alexandra fühlte sich etwas überrumpelt und war entsprechend verlegen. »Ich brauche… also meinetwegen müssen Sie sich keine Mühe machen. Ich habe noch zwei Äpfel, die reichen mir.«
»Für dich bin ich Kalina. Sprich mich nicht an wie eine Chefin. Außerdem muss ich auch etwas essen. Das mache ich nicht gern allein. Ein Gast ist mir immer lieb und teuer.«
»Danke.«
Kalina wand sich ab. »In einer halben Stunde?«
»Geht klar.«
»Gut, dann bis später.« Sie ging zur Tür, verließ den Raum und schloss die Tür dann sehr langsam. Alexandra hatte noch etwas sagen wollen, doch die Worte wollten ihr einfach nicht über die Lippen. Sie fühlte sich nicht nur allein, sondern auch verlassen. Dieser Tag und auch jetzt der angehende Abend kamen ihr vor, als wäre das alles gar nicht richtig wahr.
Aber es gab die Frau. Es gab das Haus, auch das Zimmer, und es gab sie.
Sie drehte sich um. Zuerst legte sie den Rucksack auf das Bett, dann nahm sie selbst auf der Kante Platz und schaute zunächst ins Leere.
Minutenlang blieb sie dort sitzen. Sie ließ den Tag noch mal Revue passieren und dachte daran, dass man sie bestohlen hatte. Damit war auch ihr Handy weg.
Sie hätte gern zu Hause angerufen, aber sie hatte auf ihrem Gang durch das Haus kein Telefon gesehen. Und danach fragen wollte sie auch nicht. Eigentlich hätte sie über die Gastfreundschaft froh sein können. Bisher hatte sie immer für Übernachtungen und auch Essen bezahlen müssen, hier war es nicht der Fall.
Ihr lag Kalina nicht! Diese Frau - so freundlich sie sich auch gab - war ihr einfach suspekt. Sie passte in kein Raster hinein. Sie war kein Öko-Freak, trotz ihrer Pflanzen. Dann hätte sie sich anders benommen.
Für die Deutsche war sie eine Frau, die neben dem Leben stand, auch neben dem, das sie sich eingerichtet hatte. Sie war freundlich, doch zugleich strahlte sie etwas aus, für das Alexandra noch keinen Ausdruck gefunden hatte. War es eine Kälte? Und zwar eine, die vom Gefühl herkam? Oder lag es an der kalten Hand, die Alexandra mehr als einmal berührt hatte? Eine konkrete Antwort konnte sie nicht geben. Schon war sie froh, wenn sie die folgende Nacht überstanden hatte. Sie wünschte sich den anderen Tag herbei.
Es gab nur eine Lampe im Zimmer. Sie stand auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett. Dessen Kasten bestand aus einem ebenso alten Holz wie der Schrank, und auch der Fußboden hätte eine Renovierung nötig gehabt. Das Holz war abgeschabt, an einigen Stellen sogar leicht angesplittert, doch die Tür war stabil.
Alexandra erhob sich vom Bett, ging auf die Tür zu und stellte zunächst fest, dass kein Schlüssel innen steckte. Man konnte die Tür von außen abschließen, aber das hatte Kalina nicht getan. Die Tür ließ sich normal öffnen.
Alexandra sah es schon als Vorteil an. Der Tür gegenüber lag das Fenster. Dort ging sie hin und stellte fest,
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