1225 - Die Reliquie
den Mann suchen, aber ich kann nichts Negatives über ihn sagen, das müssen Sie mir glauben. Er hat hier eine Woche gewohnt, und ich habe ihn wenig gesehen. Ein sehr ruhiger Gast, der ruhig hätte länger bei mir bleiben können.«
»Was hat er als Grund für seinen Aufenthalt hier genannt?«, erkundigte sich Suko.
»Er wollte sich in der Umgebung umschauen. Eric Tallier war oft unterwegs.«
»Nannte er einen Grund?«
»Nein, das nicht.«
»Und Sie haben ihn auch nie darauf angesprochen?«, wunderte ich mich. »Oft ist es doch so, dass Wirtinnen und Gäste ein recht vertrautes Verhältnis zueinander haben, denn die Wirtsleute sind oft der einzige Bezugspunkt für den Gast.«
»Das stimmt«, gab sie zu. »Wer hier einsam lebt, der ist natürlich neugierig. War ich auch. Aber nie direkt. Das heißt, ich versuchte auf Umwegen, etwas herauszubekommen.« Sie lächelte etwas hintergründig.
»Ist es Ihnen gelungen?«
»Nein, MR. Sinclair, leider nicht. Eric Tallier war zwar nie abweisend zu mir und immer recht freundlich, aber das ging nicht tiefer. Es war mehr die Freundlichkeit eines Verkäufers. Sich in gutes Licht setzen, aber nicht zuviel über sich preisgeben.«
»Was wissen Sie überhaupt von ihm?«, fragte Suko, der seine Teetasse leicht drehte.
»Er ist hierher gekommen, um etwas zu suchen.«
»Ach. Und was?«
»Das hat er mir nicht gesagt.«
»Hat er das Gesuchte denn gefunden, oder war sein Aufenthalt hier vergebens?«
Diese Frage brachte Tessa zum Nachdenken. Sie gab sich ehrlich Mühe, eine Antwort zu finden, das sahen wir ihr an.
Sie wollte uns nicht belügen, hob einige Male die Schultern und sprach davon, dass sein Benehmen sich am letzten Tag schon verändert hatte.
»Zum Positiven?«
Sie nickte mir zu. »Ja, MR. Sinclair. Er war nicht unbedingt hysterisch oder super gut drauf, wie man so sagt, aber er wirkte erleichtert. Als er dann zahlte, hat er noch ein gutes Trinkgeld zurückgelassen, schon einen Bonus, was ich von meinen Gästen sonst nicht gewohnt bin. Dann ist er sehr schnell verschwunden. Sogar die beiden Pressluftflaschen hat er in seinem Zimmer zurückgelassen.«
Ich bekam große Ohren und auch Augen, denn das war eine Nachricht, mit der ich nicht gerechnet hatte. Auch Suko wunderte sich und schüttelte leicht den Kopf.
»Was schauen Sie mich so an?«
»Wegen Ihrer Antwort«, erwiderte ich. »Sie haben eben Pressluftflaschen erwähnt.«
»Das stimmt. Sie stehen noch oben in seinem Zimmer. Sie können sie besichtigen, wenn Sie wollen.«
»Das werden wir wohl auch.« Ich räusperte mich kurz.
»Pressluftflaschen braucht man, um zu tauchen. Müssen wir davon ausgehen, dass Ihr Gast getaucht ist?«
»Klar!«
»Draußen im See?«, fragte Suko.
Für Tessa Long war das alles völlig normal. »Natürlich, wo sonst?«
»Und dort hat er dann etwas gefunden, denke ich.«
»Ja, kann sein.« Sie lachte. »Er hat es mir nicht gezeigt, obwohl es mich interessiert hätte.«
Wir wussten ja, was er gesucht und schließlich auch gefunden hatte. Es kam mir trotzdem in den Sinn, noch einmal nachzuhaken. »Was liegt denn auf dem Grund des Sees, das so interessant ist, um danach zu tauchen?«
Tessa zeigte sich erstaunt. »Wissen Sie das wirklich nicht, meine Herren?«
»Nein«, antworteten wir schon synchron.
»Es ist die alte Kirche!«
***
Das hatte gesessen!
Alles, was Recht war, aber mit dieser Antwort hatten wir nicht gerechnet. Und Tessa Long wunderte sich über den erstaunten Ausdruck in unseren Gesichtern. Sie fing sogar an zu lachen, weil wir so komisch ausgesehen hatten.
»Eine Kirche?«, flüsterte ich.
»Klar. Im See befindet sich eine kleine Kirche. Sie ist mehr eine Kapelle, aber sie hat dort gestanden, als es den See noch nicht gab. Das ist sehr lange her. Es muss dann vor einigen Hundert Jahren hier ein Beben gegeben haben. Es kam zu Veränderungen, die Kirche verschwand und mit ihr auch die Häuser des Dorfes.«
»Die wir im See dann auch finden können - oder?«
»Das denke ich schon, MR. Sinclair. Zumindest die Ruinen. Wie der See genau entstanden ist, weiß ich nicht. Ob sich Wasser aus den Bergen gelöst hat, als die Erde umgewälzt wurde, weiß ich nicht, aber nach der Entstehung des Sees hat sich hier nichts mehr verändert. Die Menschen haben ihren Ort wieder aufgebaut. Er ist dann kaum noch verändert worden. Und Beben gibt es in dieser Gegend auch nicht mehr.«
»Dann hat er also die Kirche gesucht«, sagte ich leise und mehr zu mir selbst, um die
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