1236 - Grauen im stählernen Sarg
einen Stein weg. »Aber ich sehe keine Chance, dass wir sie persönlich finden. Das glaube ich einfach nicht. Wenn, dann hat sie etwas hinterlassen. Jemand, der für sie die Vorbereitungen treffen kann.«
»Auch möglich.«
Wir sahen die Ruine, aber wir sahen auch das Meer, das uns unendlich vorkam. Eine gewaltige Fläche aus Wasser, Gischt und Wogen, bis zum Horizont hinweg, wo das Meer und der Himmel dann ineinander übergingen.
Spuren hatte die Blutsaugerin oder ihr Helfer nicht hinterla ssen. Aber wir sahen auch nichts von Amy Carry und hofften nur, sie bei der Ruine zu finden.
Um die noch stehenden Mauern herum wütete der Wind wie ein ärgerlicher Geselle, der sauer darüber war, dass es ihm bisher noch nicht gelungen war, die Reste des Bauwerks zu vernichten. Er heulte und jaulte um das Mauerwerk herum.
Dabei entstanden Töne, die sich anhörten, als wären sie von einer alten Flöte produziert worden, deren Löcher nicht mehr in einer bestimmten Reihenfolge standen.
Wolken fegten über den blauen Herbsthimmel. Mal kompakt, dann wieder zerrissen, wie von irgendwelchen wütenden Himmelsgeistern brutal zerfetzt.
Es existierte kein normaler Eingang, durch den wir den ehemaligen Burghof hätten betreten können. Wir konnten uns die Lücken aussuchen, aber wir hielten uns in der Nähe des Turms, von dem der größte Teil nicht zerstört war.
Es war vieles zusammengebrochen. Es lag auf dem Boden, und im Laufe der langen Jahre hatte sich die Natur auch hier ausbreiten können und die Szenerie verändert. Blanke Felsen gab es nur wenig. Überall wuchsen Gräser, Moose und auch kleine Blumen, die ihre Blätter noch nicht verloren hatten.
Ich stieg über einen Mauerrest hinweg und danach erkletterte ich einen höheren, weil ich mir einen besseren Aussichtspunkt suchen wollte.
Der Turm wäre ideal gewesen, aber ich wollte nicht über das Meer schauen, sondern meine Umgebung kontrollieren, und das war eben nur dieser Burghof.
Ein gutes Versteck?
Nein, nicht für einen Vampir, der am Tag die Dunkelheit suchte. Noch hatten wir keinen Abend und erst recht keine Nacht. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde noch Zeit vergehen, und sie wollte ich nutzen, um einen Schritt weiterzukommen.
Ich sah ihn nicht. Ich sah auch Amy Carry nicht. Suko und ich hielten uns allein auf diesem Gelände auf. Dafür hörte ich die Stimme meines Freundes und sah ihn auch winken. Er bewegte zwei Mal seinen Arm und rief abermals meinen Namen, wobei ihm der Wind den Ruf sofort von den Lippen fetzte.
»Was ist denn?«, schrie ich zurück.
»Ein totes Schaf.«
»Na und?«
»Es wäre besser, wenn du es dir mal ansiehst, John.«
Wenn er so sprach, dann hatte er etwas entdeckt. Ich kletterte von der Mauer - der Sprung nach unten war auf dem unebenen Boden zu riskant - und ging auf Suko zu. Er hatte sich schräg hingestellt und wies mit dem rechten Zeigefinger nach unten.
Mein Freund hatte sich nicht geirrt. Auf dem Boden lag tatsächlich ein totes Schaf. Oder was mal ein Schaf gewesen war, denn man hatte es zerrissen. Der Kopf fehlte. Blut verteilte sich auf dem Fell und bildete dort eine schmierige rostbraune Masse. Direkte Wunden oder herausgerissene Fleischstücke waren nicht zu sehen. Es fehlte eben nur der Kopf, und es fehlte sicherlich auch viel Blut.
»Sag was, John.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Wenn du mich so fragst, dann hat jemand das Schaf getötet, um an dessen Blut zu kommen. Er wird es mit großem Genuss getrunken haben.«
»Also gibt es ihn doch!«
»Klar. Hast du etwas anderes angenommen?« Ich verzog die Mundwinkel. »Die wenigen Menschen hier sind nicht dumm. Sie schützen sich nicht grundlos mit Knoblauchstauden. Nein, nein, die wissen schon Bescheid. Wenn auch nicht alle daran glauben, aber Rose Carry tut es.«
»Weiter.«
»Er ist hier.«
Suko nickte. »Sogar in der Nähe, das spüre ich. Die Ruine ist zwar offen, aber sie bietet trotzdem ein Versteck oder auch Verstecke.«
»Weißt du das genau?«
Suko lächelte wie jemand, der es tatsächlich wusste oder zumindest davon ausging, es zu wissen, denn er bewegte wieder seinen Arm. Diesmal allerdings in eine andere Richtung.
Man musste schon genau hinschauen, um hinter dem kleinen Trümmerhügel den Eingang in der Mauer zu sehen. Dort hatte sich früher möglicherweise eine Tür befunden, die als solche nicht mehr vorhanden war. Dafür aber das Loch.
»Hast du schon hineingeschaut?«, fragte ich.
»Nein!«
»Etwas gespürt?«
»Ich nehme nur was
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