1236 - Grauen im stählernen Sarg
setzte die flache Mütze auf den Kopf und wollte sich schon abwenden, als er uns sah.
»Wer ist das?«, fragte Suko.
»Mein Vater, Tom Carry.«
»Und?«
»Er hat mir nie geglaubt und hielt mich immer für eine Spinnerin. So kann man sich irren.«
»Hat es denn Sinn, ihm die Wahrheit zu sagen?«
Amy zweifelte daran. »Auch wenn Sie es versuchen, ich denke nicht, dass er es hören will. Er lebt in einem kleinen Kreis von Fischern hier. Die Männer interessiert nur, was sie aus dem Meer holen. Alles andere können Sie vergessen.«
»Sieht so aus, als wollte er weg.«
»Das stimmt auch. Er geht jetzt zu den Booten im kleinen Hafen. Das ist so etwas wie ein Ritual. Er trifft sich dort mit den anderen. Jetzt hat er ausgeschlafen, er sitzt dann mit den Männern zusammen, die die nächste Tour besprechen. Solange sich das Wetter noch hält, laufen sie jede Nacht aus.«
»Dann hätte er noch zu Hause bleiben können«, meinte Suko.
»Ja, das hätte er. Aber mein Vater fühlt sich bei seinen Kollegen wohler. So denken alle Kerle hier. Es ist eben eine andere Gesellschaftsform.«
»Das habe ich auch inzwischen festgestellt«, sagte ich und schaute zu den beiden Windrädern hoch, deren Flügel sich träge drehten. »Zum Glück haben sie schon Strom.«
Amy musste lachen. »Das ist auch die einzige Errunge nschaft«, erklärte sie. »Ansonsten sind wir hier am A… der Welt. Was glauben Sie, weshalb ich mir einen Job auf dem Festland gesucht habe? Ich werde nie mehr zurückkehren. Nur als Besucherin.«
»Gibt es überhaupt noch jüngere Leute hier?«, fragte ich.
»So gut wie nicht. Wer kann, der verschwindet, und das sind nicht wenige gewesen.«
Wir waren mittlerweile so nahe an Tom Carry herangekommen, dass wir uns mit ihm unterhalten konnten, ohne schreien zu müssen. Die Sommersprossen hatte Amy von ihm geerbt, denn sein Gesicht war damit übersät. Er hatte graue Augen, aus denen wir misstrauisch gemustert wurden.
»Sie also sind die beiden Männer aus London.«
»Ja, Mr. Carry«, sagte ich.
»Und wie heißen Sie?«
Er hörte unsere Namen, zeigte jedoch keine Reaktion. Dann wandte er sich an seine Tochter.
»Mutter hat sich Sorgen gemacht.«
»Ich weiß, aber jetzt bin ich hier.«
Um uns kümmerte sich Tom Carry nicht. Für ihn war Amy wichtiger. Er schaute sie leicht misstrauisch an. »Mit dir stimmt doch was nicht, Mädchen?«
»Wieso?« Amy trat verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Das sehe ich dir an.«
»Ja, Dad, ja. Das siehst du mir an!«, brach es aus ihr hervor.
»Aber jetzt ist alles in Ordnung, und ich werde dir nicht erzählen, was passiert ist. Du würdest mir ja sowieso nicht glauben. Ich sage dir nur, dass ich Recht hatte.«
»Mit dieser Gestalt?«
»Genau.«
»Und was ist jetzt mit ihr?«
»Wir mussten sie erlösen«, erklärte ich.
»Wieso erlösen?«
Ich kam zu keiner Antwort mehr, denn Amy griff ein. »La ssen Sie es, John, er wird Ihnen nicht glauben.«
Tom Carry schaute noch kurz von einem zum anderen, dann hob er die Schultern und ging davon.
»Ist Ihr Vater immer so?«, fragte ich.
Amy schaute ihm aus geröteten Augen wütend nach. »Ja, ich kenne ihn nicht anders. Ich mache ihm nicht mal einen Vorwurf. Wer auf dieser Insel lebt, der kann gar nicht anders sein. Der kriegt irgendwann einen Koller, und damit ist auch die Verbindung zur normalen Welt gerissen, finde ich.«
»Sie sind die Erfahrene.«
»Genau.«
In der offenen Tür erschien Rose Carry. Mutter und Tochter schauten sich an, und Rose spürte genau, was ihre Tochter jetzt brauchte. Sie fiel ihr in die Arme, und beide weinten plötzlich, als wüssten sie genau Bescheid, was passiert war.
Suko und ich kamen uns hier draußen ziemlich deplatziert vor und betraten wieder das Gasthaus. Wir ließen uns an dem gleichen Tisch nieder, den wir schon kannten. Es roch nach Kaffee, aber auch nach Essen. Auf dem Nebentisch sah ich einen leeren Teller. Dort musste Tom Carry sein Essen eingenommen haben.
Suko, der seine Ellenbogen auf die Knie gestemmt und sein Kinn gegen die Fäuste gedrückt hatte, schaute mich an und fragte mit leiser Stimme: »Was machen wir jetzt?«
»Schlag was vor.«
»Unser Job ist ja erledigt.«
»Hm…«
»Eigentlich…«
»Aha.«
»Was soll das?«
»Du denkst auch, was ich denke.«
»Kann sein«, erwiderte ich. Mein Blick fiel zur Tür. Dort ließen sich die beiden Frauen blicken. Sie hatten sich eingehakt. Amys Augen waren etwas gerötet.
Rose kam auf uns zu. Sie atmete
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