1255 - Böser schöner Engel
alles gleich. Das musste auch Svetlana erkennen, die sich nach vorn bewegte, dabei jedoch aussah wie jemand, der neben sich stand. Sie ging mit kleinen Schritten auf das Bett zu und flüsterte dabei ohne Unterlass den Namen ihrer Tochter.
Eine Reaktion erhielt sie nicht. Jamina lag im Bett, ohne sich zu rühren. Die Decke war zur Seite geschoben, und so konnte Svetlana sie vom Kopf bis zu den Füßen betrachten.
Nichts hatte sich verändert. Die Arme lagen zu beiden Seiten des Körpers gestreckt. Die Augen sahen geschlossen aus. Erst beim Näherkommen stellte die Mutter fest, dass sie leicht geöffnet waren.
Es fiel der jungen Witwe schwer, sich auf den Füßen zu halten. Deshalb zog sie wieder den Stuhl bis in die Nähe des Betts und ließ sich darauf nieder. Sie drehte und beugte den Kopf so, dass sie in das Gesicht des Kindes schauen und alle Einzelheiten wahrnehmen konnte. Sie saß jetzt bei ihrer Tochter und wusste nicht, ob ihr Tamara geholfen hatte oder nicht. Der Zustand zeigte sich unverändert. Sie sah noch immer so blass aus, abgesehen von kleinen Rötungen auf den Wangen.
Aber sie lebte, denn sie atmete. Und sie atmete normaler als vor dem Besuch der Geistheilerin. Da war schon ein Erfolg erreicht worden.
Mit leiser Stimme sprach Svetlana den Namen ihrer Tochter aus und wartete auf eine Reaktion.
Da kam nichts, gar nichts! Es blieb still, und in dieser Stille waren die Schritte der Ärztin deutlich zu hören. Sie näherte sich der Witwe und blieb neben dem Stuhl stehen, den Kopf nach vorn gebeugt.
»Es hat sich nichts verändert«, sagte Svetlana.
»Sei dir da nicht so sicher.«
»Doch, schau, es hat sich nichts verändert. Wirklich nicht. Sie liegt da wie tot.«
»Sie wird leben.«
Svetlana konnte das Lachen nicht unterdrücken. »Und wo ist die andere Person? Wo denn? Sie… sie… war da, aber dann ist sie verschwunden. Einfach so. Sie ist in meine Tochter eingetaucht, sie ist ein Teil von ihr geworden. Vielleicht ist sie auch selbst…«
»Es hat alles seine Richtigkeit, Svetlana, glaube mir.«
»Was macht dich denn so sicher?«
»Sie. Ich habe sie gesehen. Sie ist die Person, die mehr kann als alle anderen Heiler. Sie ist ein Weltwunder«, flüsterte die Ärztin. »Jetzt bin ich schon über siebzig, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass mir so etwas je widerfahren würde. Die Welt ist voller Geheimnisse, und sie wird es auch immer bleiben.«
Svetlana hatte zugehört, aber sie wollte es nicht akzeptieren. Es war egal, was die Ärztin über die Welt und deren Geheimnisse dachte, ihr kam es einzig und allein auf ihre Tochter an.
Im Zimmer war es unheimlich still geworden. Einfach anders still als sonst. Die Luft drückte, und sie schien sich mit etwas gefüllt zu haben, von dem Svetlana keine Ahnung hatte. Es kam ihr auch vor, als hätte sich der Geruch verändert. Wenn sie einatmete, dann drang eine andere Luft in ihre Nase, die sie als schärfer und klarer empfand, als wäre etwas in sie eingedrungen.
Svetlana schnupperte. »Was ist das?«, fragte sie und drehte den Kopf der Ärztin zu.
»Was meinst du?«
»Die Luft. Riech doch.«
»Ich rieche nichts.«
Svetlana nickte heftig. »Doch, doch«, sagte sie hastig. »Da ist etwas. Ich bekomme es genau mit. Es steigt in meine Nase hinein und dann hoch bis in den Kopf. Die Luft ist ganz anders geworden, als wäre darin etwas gemischt worden. Ein bestimmter Geruch, den ich nicht deuten kann. Er muss seinen Ursprung woanders haben.«
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. »Nein Svetlana, so ist das nicht. Du bist überreizt. Die Nerven liegen blank. Da ist es verständlich, wenn du etwas riechst, was nicht hierher passt.«
»Der Geruch stammt von ihr. Nur von ihr!«
»Von Tamara?«
»Von wem sonst?« Svetlana schaute sich um. »Sie ist hier irgendwo zu finden, daran glaube ich fest. Nur kann ich sie nicht sehen. Sie hält sich im Unsichtbaren verborgen und beobachtet uns. Das ist eine ganz andere Welt, und zwar die Welt der Geister.«
»Dann ist Tamara für dich ein Geist?«
»Jetzt schon. Oder hast du nicht gesehen, wie sie in Jaminas Körper eindrang?«
»Ja, das habe ich.«
»Gut. Und wie erklärst du dir das?«
»Ich habe keine Erklärung, wenn ich ehrlich sein soll. Tut mir leid, so ist das nun mal.«
Svetlana hatte gesagt, was sie loswerden wollte. Es hatte ihr auch gut getan, denn nun war sie endlich in der Lage, sich genauer mit ihrer Tochter zu beschäftigen.
Mit ihren Fingerkuppen strich sie am Gesicht der Kleinen
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