1255 - Böser schöner Engel
seltsamen Gegenstände ab, die jetzt an zusammengeklappte Fächer erinnerten. Auf dem Bildschirm waren sie immer von der Kleidung verdeckt gewesen, und auch jetzt fanden die Frauen es als befremdend.
»Warum ist sie unter dem Mantel nackt?«, flüsterte Svetlana. »Kannst du es dir vorstellen?«
»Nein.«
»Das ist doch…«
Die Ärztin legte Svetlana eine Hand auf den Arm. »Alles, was wir hier sehen, ist für uns nicht richtig erklärbar. Es hat wenig Sinn, Fragen zu stellen. Man muss sie machen lassen. Du musst dein Denken einfach verändern. Das ist alles.«
»Ja, mein Denken…«
»Bitte, nimm es hin!«
»Das will ich ja, und das werde ich auch. Es ist nur alles so anders geworden in der letzten Zeit. Ich bin überrascht, und diese Überraschungen haben nicht aufgehört. Genau das ist mein Problem. Außerdem ist zu viel auf mich eingestürmt.«
»Drück deiner Tochter die Daumen!«
»Ja, das werde ich!«
Sie waren jetzt still, denn beide sahen, dass sich Tamara intensiv um Jamina kümmern wollte. Das im Bett sitzende Kind hatte seinen Kopf gedreht, sodass es zur Tür schauen konnte. Es wollte seine Mutter ansehen, und dieser Blick galt wirklich nur ihr.
Svetlana spürte, dass sich ein Band zwischen ihr und der Tochter aufgebaut hatte. Wieder war es die Brücke, über die sie gehen konnte, und genau diese Brücke transportierte eine Warnung in Richtung Mutter. Svetlana konnte es nicht näher erläutern, aber diese Warnung war vorhanden, sodass sie ein schlechtes Gewissen bekam, denn Jamina wollte nicht, dass diese Fremde sie behandelte.
Was hast du nur getan? So konnte man ihren Blick deuten. Svetlana dachte auch wieder an das, was Jamina ihr vor dem Besuch in einem lichten Augenblick erklärt hatte. Da war sie schon gewarnt gewesen, aber sie wusste auch, dass es kein Zurück gab. Sie konnte nicht hingehen und Tamara bitten, zu verschwinden. Das hätte sie nie getan, und Svetlana wäre zu einer Außenseiterin geworden.
»Sie fängt an!« Die Flüsterstimme der Ärztin riss Svetlana aus ihrer Nachdenklichkeit. Sie schaute wieder zum Bett und erlebte den ungewöhnlichen Beginn der Behandlung.
Tamara kletterte auf das Bett. Sie tat es in einer Weise, die beide Zuschauerinnen nicht nachvollziehen konnten, denn derartige Ansätze, um einen Menschen von seiner Krankheit zu heilen, hatten sie noch nie zuvor gesehen.
Mit den Händen drückte sie das kranke Kind zurück. Sie kniete über Jamina. Die Decke war nach hinten geschlagen, sodass der Kinderkörper frei lag. Das Mädchen trug ein wollenes Nachthemd, das ihm bis zu den Knöcheln reichte. Auch während des Liegens war es nicht hochgeschoben worden.
»Was soll das?«, flüsterte Svetlana.
»Keine Ahnung«, gab die Ärztin leise zurück. »Da bin auch ich überfragt. Aber es wird schon seinen Sinn haben.«
So dachte die Mutter nicht. So sehr sie sich auch auf eine Heilung ihrer Tochter gefreut hatte, jetzt dachte sie anders darüber. Das alles war ihr suspekt geworden. Sie sah keinen Sinn im Verhalten dieser Person. Warum kniete sie über dem Kind? Warum beugte sie sich jetzt vor?
Svetlana traute sich nicht, die Fragen offen zu stellen. Sie quälte sich damit herum, aber sie hielt den Blick weiterhin auf die beiden unterschiedlichen Personen gerichtet.
Die Heilerin fuhr mit der Behandlung fort, und sie behielt auch ihre ungewöhnlichen Methoden bei. Sie beugte sich noch weiter nach vorn, rutschte ein wenig nach hinten, und sie bog dabei den Rücken so tief durch, dass er eine Mulde bildete. Dann streckte sie den Kopf vor und näherte sich dem Gesicht des Kindes.
Jamina lag starr im Bett. Eine Tote hätte kaum anders ausgesehen als das Mädchen.
Tamara sagte nichts. Sie handelte nur. Nachdem sie sich weit nach vorn gebeugt hatte, setzte sie auch die anderen Körperteile ein und griff nach den Händen der Liegenden. Das beruhigte Svetlana.
Auch normale Ärzte reagierten so.
Sehr lange wurde die Hände der Tochter nicht gehalten. Schon bald lagen sie wieder frei, und die Heilerin begann mit ihren Händen über den Körper zu streichen. Sie bewegte sie dabei flach von unten nach oben. Sie flüsterte auch Worte, die allerdings von den beiden zuschauenden Frauen nicht verstanden wurden. Sie waren ausschließlich an Jamina gerichtet, und der beschwörende Klang war dabei nicht zu überhören.
Svetlana holte tief Luft. Ihr Herz schlug so schnell wie selten in der letzten Zeit. Sie spürte auch den Druck im Kopf. Sie wollte sich bewegen, und sie wäre
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