1257 - Gezeichnet durch den Höllenfluch
verstehen können. Also musste er abwarten und näher herangehen.
Gallo bewegte sich auf Zehenspitzen. Die Natur war ihm plötzlich egal geworden, auch kam er sich wie ein Voyeur vor, aber das alles nahm er in Kauf, um die Wahrheit herauszufinden.
Sein Platz wurde von der Trauerweide und der Birke umrahmt. Die Weide war während des Wuchses nach vorn gedrückt worden, und ihre Zweige hingen weit nach unten, sodass sie, zusammen mit den schmalen Blättern, auch die Oberfläche berührten.
Die Birke stand daneben wie ein bleicher Knochen. Auch ihre Äste und Zweige standen voll im Saft, so wie es im Hochsommer üblich war.
Er folgte den Geräuschen, die jetzt keine Worte mehr waren, sondern nur noch ein heftiges Atmen, wie bei einem Menschen, der unter einem großen Druck steht. Er hörte auch hin und wieder ein Lachen, das ihm nicht gefiel, weil es nicht fröhlich klang, sondern hart und hämisch.
Die Dämmerung war sein Schutz, aber zugleich auch ein Hindernis. Bei hellem Licht hätte er jetzt schon etwas sehen können, so aber musste er noch näher heran.
Er hatte jetzt den direkten Weg genommen. Wäre er so weitergegangen, hätte er seine Füße bald ins Wasser setzen können, denn der Weg führte direkt bis an das Ufer.
Dort stand die Frau. Sie drehte ihm den Rücken zu und schaute über den See hinweg. Gallo wusste nicht, wer sie war. Er sah nur, dass sie dunkles Haar hatte, das sehr lang war und mit seinen Spitzen den Rücken erreichte. Ob sie jung oder schon älter war, das konnte er nur schätzen, aber er tippte aufgrund des Aussehens und der Haltung auf eine jüngere Person.
Gallo hätte eigentlich schon hingehen sollen, aber es hielt ihn etwas zurück. Er konnte auch nicht sagen, was es war, da musste er schon in sich hineinhorchen, und er gelangte zu dem Schluss, dass er auf sein Gefühl achten musste.
Er glaubte daran, dass etwas passieren würde und dass er gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen war.
Das leise Jammern ließ ihn zusammenzucken. Er bekam nicht nur einen leichten Schock, sondern auch eine Gänsehaut, denn das Jammern hatte sich schlimm angehört. Es war vor ihm aufgeklungen, und der Laut hatte ihn auch an das Wimmern eines gequälten Tiers erinnert.
Francis Gallo war nicht die einzige Person, die von dem Geräusch aufgeschreckt worden war. Auch die Frau am Ufer reagierte, denn sie drehte sich mit einer schnellen Bewegung um.
Zum Glück war auch der junge Geistliche schnell. Bevor er entdeckt werden konnte, war er schon weggetaucht, und so glitt der Blick der Frau ins Leere.
»Hör auf. Stör mich nicht. Hör auf mit dem Gejammer. Es ist meine Zeit, verflucht!«
Das Jammern verstummte tatsächlich, aber der Lauscher und Zuschauer war nicht schlauer geworden.
Irgendetwas lief hier ab, was nicht normal war. Trotz der Wärme spürte Gallo so etwas wie eine dünne Schicht aus Eis auf seinem Rücken. Entdeckt worden war er nicht. Die Frau hatte sich wieder umgedreht und zeigte ihm jetzt ihren Rücken, der von einem bis zu den Füßen reichenden Kleid verdeckt wurde.
Das Wimmern wiederholte sich tatsächlich nicht, aber Gallo glaubte nicht mehr daran, dass es von einem Tier abgegeben worden war. Was sich da im hohen Gras versteckte, konnte durchaus ein Mensch sein. Ein sehr junger Mensch, ein Baby…
Was tat eine Frau mit einem Baby in der Dämmerung am Ufer eines Sees? Der Pfarrer wusste es nicht, aber er konnte seine Gedanken auch nicht in eine positive Richtung wenden. Das war hier nicht normal, sondern schon mehr abstrakt oder unheimlich.
Er wartete noch. Aber er suchte den Boden ab, um das Kind zu entdecken. Es war schwer genug, denn das Gras hier erreichte eine Höhe, die einem erwachsenen Menschen fast bis zu den Knien reichte. Darin konnte man schon etwas verstecken.
Es mochte etwa eine Minute nach dem Vorfall vergangen sein, als sich die Frau mit den dunklen Haaren wieder bewegte. Sie tat etwas, was den jungen Pfarrer wieder in Staunen versetzte, denn sie ging nach vorn, und dort befand sich das Wasser.
Es war zudem eine Stelle am Ufer, an der nicht viel wuchs. Es gab keine großen Hindernisse. So konnte sie fast normal vom Trockenen her in das Wasser schreiten.
Genau das tat sie! Die Frau ging mit recht kleinen Schritten und auch langsam in das Wasser hinein.
Der heimliche Beobachter hörte das leise Klatschen der Wellen und sah, wie sie sich ringförmig ausbreiteten und auf die Mitte des Sees zuliefen.
Francis Gallo war durcheinander. Mit dem Verhalten der Frau
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