1258 - Der Leichen-Skandal
Sie brauchen sich nicht vor extremen Situationen zu fürchten.«
»Wollen wir?«, fragte ich Helen Carver.
»Nein.«
»Gut.« Ich wandte mich wieder an David Frost. »Hier unten gibt es doch sicherlich noch etwas anderes zu besichtigen, nehme ich an.«
»Natürlich, Mr. Sinclair. Wir haben das Urnenlager. Dort stehen die mit den Namen der Verstorbenen beschrifteten Urnen, die auf ihre Abholung warten. Leider werden sie oft vergessen, und wir haben dann die Probleme mit den Platzgründen. Vom Gesetz her dürfen wir leider nichts entsorgen.«
»Was ist mit den Öfen?«, fragte Suko.
»Dort wollen Sie hin?«
»Ja.«
»Gut.« Er lächelte irgendwie gierig. Seine hellen Augen erinnerten mich an Kieselsteine. »Sie reagieren wie alle Besucher. Die Menschen wollen tatsächlich immer die Öfen sehen. Das gibt den gewissen Schauer. Auch bei älteren Personen.« Er grinste Helen Carver so impertinent an, dass ich ihm am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre. Doch da konnte ich mich schon zusammenreißen.
Wir verließen das Studio und gelangten in einen Raum, in dem von Verbrennungsöfen nichts zu sehen war. Es war so etwas wie ein Vorraum, und hier sah es aus wie in der Pathologie. Da kannte ich mich ebenso aus wie Suko.
Zwei OP-Tische. Klinisch reine Umgebung. Fliesen auf dem Boden und an den Wänden. Waschbecken, Ablaufrinnen. Glasschränke mit chirurgischen Instrumenten, hier war alles vertreten, was auch der Pathologe an Werkzeug benötigte.
Dave Frost baute sich auf wie der große Besserwisser. Seine Augen leuchteten. »Dieser Raum ist sehr wichtig«, erklärte er. »Hier entnehmen wir den Toten das Metall, das in ihren Körpern steckt.«
»Was denn?«, fragte Helen Carver mit leiser Stimme.
»Herzschrittmacher, zum Beispiel. Sie würden in den über tausend Grad heißen Brennöfen regelrecht explodieren. Wir sammeln auch Zahngold. Der Erlös daraus wird sozialen Zwecken zur Verfügung gestellt. Alles klar? Oder haben Sie noch Fragen?«
Die hatte keiner von uns, und so wurden wir dann zum Herz der Anlage gebracht.
Eine Eisentür öffnete den Weg in den eigentlichen Verbrennungsraum, in dem auch die Öfen standen.
Bisher waren wir von der endgültig letzten Realität verschont geblieben, nun aber erlebten wir die Konfrontation mit dem Tod.
Helen Carver war nicht so abgebrüht wie Suko und ich. Sie umfasste mit ihren Fingern meine Hand, und ich merkte sehr deutlich das Zittern. Es gab zwei Brennöfen. Beide waren mit einer Luke bestückt, hinter der die Flammen loderten. Das Sichtglas hielt auch die hohen Temperaturen aus. Das Licht kam mir plötzlich so leer vor, als würde mich eine Eishand streicheln.
Dave Frost sagte nichts. Er überließ uns allein den Beobachtungen und den Gedanken.
Die Öfen waren außen mit Metall verkleidet. Es gab einen Temperaturregler. Grüne und blaue Lampen blinkten an den Wänden, und unsere Blicke fielen auf Handschuhe, auf Eisenstäbe und zwei Schaufeln. Da wurde die Erinnerung an einen Kamin präsent.
Ich trat an die Sichtluke heran. Keine Gasflammen huschten über den Boden. Es stand auch kein Sarg darauf, das Kremieren würde erst später beginnen.
Ich vermisste den Rost, den ich schon bei einem anderen Fall erlebt hatte. Da hatte ich verbrannt werden sollen, aber ich war im letzten Augenblick entkommen.
Statt des Rostes sah ich hinter dem Glasfenster einen Stein, von dem später die Asche abgefegt wurde.
Dave Frost schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er schob sich auf mich zu. »Was ist so interessant, Mr. Sinclair?«
»Es gibt hier keinen Rost.«
»Richtig. Dafür den Stein. Er besteht aus einem Spezialmaterial.«
Die Antwort reichte mir nicht, und so fragte ich weiter. »Was sind die Vorteile?«
»Ganz einfach. Jeder Mensch verbrennt anders. Aber jeder braucht etwa die gleiche Zeit. Da schließe ich auch die Kinder mit ein. Die Leiche wird auf den Spezialstein gelegt, damit die Flammen auch von unten richtig greifen. Eine absolut sichere Sache. Der Sarg ist praktisch nur als Dekoration gedacht. Die Angehörigen sollen eben das Gefühl einer normalen Beerdigung bekommen.«
»Hier unten sind sie natürlich nicht«, sagte ich. »Aber Sie müssen doch so etwas wie eine Feier abhalten, bevor sie die Toten den Flammen übergeben.«
»Das trifft auch zu.«
»Wo findet die Feier statt?«
»In unserer Kapelle. Dort können die Angehörigen dann auch der Musik lauschen, die Sie bestellt haben.«
»Diesen Raum haben wir noch nicht gesehen.«
»Das
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