1263 - Das Wissen der Toten
doch!« Sie streckte ihrer Tochter beide Hände entgegen. »Es gibt auch ein Verzeihen. Das hast du doch gelernt - oder?«
»Ja, das gibt es, Mutter. Aber auch das ist unterschiedlich. Hier kann ich dir nichts verzeihen, denn hier muss etwas zurechtgerückt werden, und da gebe ich Peter Recht.«
»Wie meinst du das?« In der Frage der Frau schwang eine gewisse Angst mit.
»Du wirst es gleich sehen, Mutter!«
Jane Collins, die in guter Deckung stand, hatte jedes Wort mitbekommen. Und auch sie fühlte sich wie auf Glasscherben stehend. Die Spannung war unerträglich geworden. Alles in ihr drängte, sich endlich zu bewegen, aber das konnte sie sich nicht erlauben. Sie musste noch warten. Ein Auftauchen zum falschen Zeitpunkt wäre fatal gewesen.
Tara Jenkins rang jetzt die Hände. »Bitte, Kind, wir können in Ruhe reden. Nicht hier, sondern zu Hause oder wo immer du willst. Es muss doch in Ordnung kommen.«
»Genau, Ma, es stimmt. Da hast du genau das Richtige gesagt. Und es wird auch in Ordnung kommen, verlass dich darauf.«
»Gut, dann machen wir…«
»Wir werden nichts machen. Es ist schon alles geregelt.« Alexa hatte das Kommando übernommen, und das behielt sie auch.
Innerhalb der letzten Minuten hatte sie sich nicht bewegt. Das änderte sie jetzt. Mit einer betont langsamen Bewegung drehte sie sich um, damit sie auf den Spiegel schauen konnte.
Genau das taten Tara Jenkins und Jane Collins ebenfalls. Sie konnten gar nicht anders und mussten dem Blick des Mädchens folgen.
Auch Jane hatte jetzt Zeit, sich auf den Spiegel zu konzentrieren. Sie schaute ihn nicht nur mehr an, sondern sie blickte auch in ihn hinein.
Es war der Blick in eine Tiefe, in eine andere Welt oder auch andere Dimension.
Doch es war noch mehr.
Es passierte etwas!
In einer nicht messbaren Distanz bewegte sich etwas Buntes, tickte auf, rollte näher an den Spiegelrand heran - und fiel hervor, wobei es im Freien liegen blieb.
Es war der bunte Ball!
***
Sekundenlang sprach niemand. Bis sich Alexa wieder bewegte und fragte: »Kennst du ihn, Mutter?«
»Ja, natürlich. Es ist dein Ball. Du hast ihn schon sehr lange, und du hast ihn geliebt.«
»Sehr sogar. Mein Bruder liebte ihn auch. Aber da war er schön tot. Wir beide haben immer mit ihm gespielt. Es machte uns großen Spaß. Er war so etwas wie eine Brücke oder ein Band zwischen uns. Ich habe ihn auch zu Peter hin mitgenommen, aber jetzt hat er ihn mir zurückgegeben, denn das Spiel ist aus.«
»Was soll das denn alles, Kind?«
»Reg dich nicht auf, Ma. Es lohnt sich nicht. Schau lieber in den Spiegel.«
Das tat Tara Jenkins auch. Aber nicht nur sie blickte dahin, sondern auch Jane Collins. Sie befürchtete, dass sich dort bald ein Drama abspielen würde.
Im Schein der Kerzen, der immer noch wie ein dünnes Tuch über und in die Fläche hing, war die Bewegung nicht zu übersehen.
Jemand löste sich aus der Tiefe, und es war die Gestalt des Toten, jetzt allerdings als Geist.
Sie schwebte näher, sie wurde deutlicher, aber sie verdichtete sich nicht unbedingt. Durchscheinend blieb sie, auch wenn sie jetzt aussah, als wäre sie von einem Maler mit feinen Pinselstrichen gezeichnet worden. Der Geist wollte seine Welt verlassen.
So schwebte er vor. Langsam, aber unaufhörlich.
Jane schaute dorthin, wo Tara Jenkins stand. Die Frau war nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen.
Die Angst und das damit verbundene Entsetzen hatten ihr eine Haltung verliehen, die man nur mit einer betonartigen Starre beschreiben konnte. Was hier passierte, war ungeheuerlich. Hier trafen zwei, Welten zusammen und vermischten sich.
Welche Gefühle mussten in dieser Frau toben, die als Mutter versagt hatte und nun zur Rechenschaft gezogen wurde! Sie hatte das schlechte Gewissen, sie hatte das Grab so verändert, denn ihr Mann hatte sich darum nicht gekümmert. Wahrscheinlich wusste er nichts davon und hatte den Selbstmord seines Sohnes längst abgehakt.
Nun kam Peter zurück!
Alexa schaute mit glänzenden Augen zu, wie sich die Gestalt ihres Bruders immer näher an den »Ausgang« des Spiegels heranschob. In der Fläche war jetzt ein leichtes Flirren zu beobachten. Jane Collins wusste, dass es entstand, wenn Grenzen erreicht waren.
»Jetzt ist er da!«
Alexa hatte die Worte geflüstert. Die Freude in ihrer Stimme war nicht zu überhören gewesen, denn auch sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie war mit ihrem verstorbenen Bruder wieder in der normalen Welt vereint. Er war zu einem Wanderergeworden,
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