1266 - Schleichende Angst
Sie verhielten sich nur neutral. Es traf auch keine Anstalten, dem jungen Mann zu helfen. Zu groß war das Ziel, das vor ihnen stand.
Mit zitternden Knien blieb Stan vor dem Bett stehen. Er wunderte sich darüber, dass er es noch schaffte, sich auf den Beinen zu halten. Immer wieder hatte er das Gefühl, jeden Moment zusammenzubrechen.
Sally und Alice nahmen ihn in die Mitte wie zwei gute Freundinnen. Edda ging hinter den dreien her. Sie hielt die Waffe auch weiterhin in der Hand, obwohl sie die nicht einzusetzen brauchte, denn daran glaubte sie nicht. Der junge Mann würde sich nicht trauen, etwas zu unternehmen.
Stan warf noch einen Blick auf den reglosen Körper des Inspektors. Er hatte einen Brustschuss erhalten. Das Kugelloch war kaum zu sehen, und es gab auch nur wenig Blut.
Er konnte nichts sagen und nicht mal denken, als man ihn aus der Wohnung führte. Aber so wie er musste sich auch ein Mensch vorkommen, den man zur Hinrichtung führt…
***
Ich saß auf der Bettkante!
In mir war es leer geworden, und so schaute ich auch mit einem leeren Blick auf den Kollegen Malcolm Butt, den ich beim Betreten des Zimmers gefunden hatte.
Es war ein Schock für mich gewesen, und dieser Schock hatte zugleich dafür gesorgt, dass Vorwürfe in mir hochkeimten. Ich hätte mich anders mit dem Kollegen verabreden können, ich war zu spät gekommen, alles hätte anders laufen können, dann hätte ich nicht hier gesessen und auf einen starren Körper geschaut.
Es gab allerdings Hoffnung.
Malcolm war nicht tot!
Die Kugel hatte ihn zwar in die Brust getroffen und steckte wohl tief in seinem Körper, aber sie hatte ihn zum Glück nicht tödlich erwischt. Er lebte noch, und jetzt kam es darauf an, dass der von mir alarmierte Notarzt früh genug eintraf, um den Mann zu retten. Ich wünschte mir im Moment nichts sehnlicher. Aber in solchen Situationen ist man als Zuschauer einfach machtlos. Da konnte man nur hoffen, Daumen drücken und auch beten.
Die kleine Wohnung hatte ich schnell durchsucht und hatte sie verwaist gefunden. Es gab keinen Hinweis auf den oder die Täter und auch keinen auf den Besitzer der Wohnung. Wobei ich Täter und Besitzer nicht gleichsetzte.
Wer hatte geschossen?
Hexen, Frauen, Täterinnen. Die Begriffe schossen mir durch den Kopf. Ich selbst hatte am Tatort im Wald die geisterhaften Stimmen gehört. Mit viel Fantasie konnte man davon ausgehen, dass die Geisterstimmen zu den Mörderinnen passten.
Oder nicht?
Eher nicht, denn Geister mussten sich nicht auf Schusswaffen verlassen, um irgendwelche Probleme zu lösen. Für diese Tat gab es andere Personen, die man zur Verantwortung ziehen musste.
Die folgende Nacht war die Walpurgisnacht. In den letzten Jahren war es immer mehr in Mode gekommen, alte Feste und überlieferte Rituale wieder aufleben zu lassen. Dazu gehörte auch diese besondere Nacht. Nicht nur in England wurde sie gefeiert, in ganz Mitteleuropa war sie bekannt, denn Goethes Faust hatte zwar nicht jeder gelesen, doch die Walpurgisnacht wurde immer hervorgehoben.
Die Menschen liebten eben das Unheimliche und das Schreckliche. Das war schon zu allen Zeiten so. Man fürchtete sich eben gern, wenn man in einem sicheren Haus saß.
Die Zeit wurde lang, zu lang. Ich hütete mich davor, den Schwerverletzten zu berühren oder seine Lage zu verändern.
Ab und zu stöhnte er auf, und das war für mich stets ein positives Signal.
Endlich, nach einer Zeit, die mir wahnsinnig lang vorkam, hörte ich die Sirene des Notarztwagens.
Diesmal war das Jaulen wirklich Musik in meinen Ohren. Ich verließ meinen Platz auf dem Bett, um dem Arzt entgegenzulaufen.
Beim Transport des Schwerverletzten würde es verdammt eng werden, aber eine andere Möglichkeit bot sich nicht an.
Hintereinander stürmte der Arzt und zwei seiner Assistenten die Treppe hoch.
»Mein Name ist Sinclair, ich habe Sie angerufen.«
»Gut, wo finde ich den Mann?«
»Folgen Sie mir.«
Ich war jetzt fehl am Platze und wartete außerhalb des Zimmers, aber innerhalb der Rufweite. Im Flur lehnte ich mich gegen die Wand. Wieder begann das große Zittern, aus dem ich herausgerissen wurde, als die beiden Helfer an mit vorbei auf die Treppe zueilten.
»Wir brauchen eine Trage«, riefen sie mir zu.
»Dachte ich mir«, murmelte ich.
Ich ging wieder zurück in den Raum. Der Arzt kniete noch neben dem Verletzten. Das graue Haar war dem Weißkittel nach vorn ins Gesicht gefallen. Er hatte mich gehört und hob den Kopf an. Ich versuchte,
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