1288 - Das unheimliche Mädchen
vorbei, als in den Klöstern Menschen gefangen gehalten wurden.«
»Was ist das bei mir?«, flüsterte sie. »Ist das denn etwas anderes? Sei ehrlich.«
»Du bist keine Gefangene. Aber du weißt selbst, dass man etwas unternehmen musste. Ich kenne deine Geschichte. In deiner Nähe ist oft genug etwas Unerklärliches passiert und…«
»Ich habe die Kinder gerettet!«, rief sie. »Die Zwillinge sind nicht verbrannt.«
»Leider die Mutter!«
»Ich habe keine vier Hände.«
»Das ist richtig, Gabriela, aber die Experten konnten nicht herausfinden, wie das Feuer entstand. Das ist das große Rätsel. Es war plötzlich da, und nicht wenige meinen, dass du daran nicht ganz unschuldig bist. So musst du es sehen.«
Sie schwieg für einige Sekunden und schaute aus dem Fenster, weil sie die Weinberge betrachten wollte, die sich in sanften Wellen dahinzogen. Die schmale Straße führte nicht hinein, sondern unten an ihnen vorbei.
»Wie denkst du denn über mich?«
Mit dieser Frage hatte ich gerechnet, mir allerdings noch keine Antwort zurechtgelegt. »Ich weiß nicht, wie ich über dich denken soll. Vielleicht kannst du mir dabei helfen.«
Sie verzog die Lippen. »Du glaubst auch, dass ich ein Feuerteufel bin, nicht wahr?«
»Nein.«
»Lüg doch nicht!«
»Ich lüge nicht, Gabriela. Du bist kein Feuerteufel, aber ich denke schon, dass du etwas mit dem Feuer zu tun hast.«
»Ach ja. Und warum?«
»Da gibt es schon einige Beispiele. In der letzten Nacht ist ja wieder etwas passiert.«
»Ich wusste, dass du davon weißt.«
»So etwas kann man nicht geheim halten.«
»Aber man wollte mich umbringen. Gina Pescaro kletterte auf mein Bett. Sie hat mich gewürgt. Sie hasste mich. Wir waren so gegensätzlich, und das konnte sie nicht ertragen. Es war grauenhaft, wirklich. Ich habe schon gedacht, dass ich sterben müsste.«
»Und was passierte dann?«
Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ich ging etwas vom Gas. Vor mir führte die Straße in Schlangenlinien weiter. Die Weinberge waren von beiden Seiten noch dichter herangerückt, sodass wir durch ein Tal rollten. Am blauen Herbsthimmel sahen die Wolken aus wie weiße Wattetupfer, und innerhalb des herrlichen Blaus bewegte sich ein silbriger Fisch. So zumindest sah das Flugzeug aus, das über die Alpen hinweg in Richtung Norden flog.
»Ja, es passierte etwas«, sagte Gabriela mit leiser Stimme. »Aber ich habe es nicht lenken können.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht konnte!«, schrie sie gegen die Scheibe. »Ich war unfähig.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte heftig den Kopf.
Ich dachte darüber nach, ob es gut war, noch weiter zu fahren. Es konnte durchaus besser sein, wenn ich mich um Gabriela kümmerte und durch das Fahren nicht abgelenkt wurde.
Deshalb hielt ich nach einer Stelle Ausschau, an der ich anhalten konnte. Das war nicht so leicht, aber ich hatte auf der Fahrt schon Lücken oder Einkerbungen im Berg gesehen, und auf eine solche Stelle hoffte ich.
Nicht mal eine Minute später hatte ich Glück. Da führte ein Weg in den Berg hinein. An der Mündung zur Straße war er ziemlich breit, später verengte er sich. An der breiten Stelle parkte ein Traktor, an den ein Anhänger angekoppelt war.
Daneben hielt ich an und stellte den Motor ab. Gabriela saß noch immer in ihrer ungewöhnlichen Haltung. Sie zitterte nicht mehr, und ich traute mich, sie an der Schulter zu berühren. Sie hatte das Zeichen verstanden und ließ die Hände langsam sinken. »Du willst etwas wissen, nicht?«
»Ich kann es nicht leugnen.«
»Aber ich weiß es nicht, John.« Sie sprach, ohne mich dabei anzusehen. »Ich weiß nicht, wie es passierte. Es war plötzlich da.«
»Woran kannst du dich überhaupt erinnern?«, erkundigte ich mich.
»An meine Angst! An meine grauenvolle und schreckliche Angst vor dem Tod. Die Hände waren wie Klammern, die mir die Luft abwürgten. Ich konnte nicht mehr atmen und habe schon die dunklen Schatten des Todes vor meinem Kopf kreisen sehen. Das war unheimlich, aber plötzlich spürte ich die Hitze in mir, und dann ist es passiert.«
»Das Feuer?«
Sie stöhnte auf. »Gina hat geschrien. So laut und schrecklich wie ich noch nie jemand schreien gehört habe. Es war nicht zu begreifen, und ich erwachte durch die Schreie wie aus einem Rausch. Ich konnte nichts dagegen unternehmen. Ich konnte ihr nicht helfen. Als ich sie anschaute, da sah ich, dass ihre Hände brannten, mit denen sie mich kurz zuvor noch hatte
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