13 alte Esel
Fußtritte und abgebrochene Zweige und Kuhmist — ich meine, den Mist fanden sie bei den Rinderherden in Texas, viell...«
Vor Frau Marthas Augen explodierte die Welt in faustgroße Stücke. »Mist! Sind Sie verrückt geworden? Einer unserer Jungen ist weg, und Sie schlagen Indianerspiele vor! Wir müssen ihn finden, ehe Herr Ess kommt, begreifen Sie das denn nicht? Rennen Sie, beeilen Sie sich, fragen Sie bei Müntes, gehen Sie doch schon !« Auf ihren Backen brannten Flecke. Schwester Monika lief davon, so schnell ihre Beine sie trugen.
Frau Martha rannte ohne Hut und Mantel hinterdrein. Sie konnte nicht rennen, und während sie am liebsten geflogen wäre, mußte sie nach wenigen Schritten innehalten und die Hände gegen die stechenden Seiten pressen. Die Benommenheit in ihrem Kopf wich für Momente, in denen ihr scharf bewußt wurde, was das bedeutete: Andreas ist weg. Aber Josef fragen? Damit er sie ansah, als bäte er sie um Verzeihung dafür, daß er überhaupt geboren war, und dann sagte: »Der ist doch da und da !« ? Nein, nein. Sie war zu aufgeregt, um sich über den Widersinn klar zu werden, daß sie den Jungen fieberhaft suchte und zugleich nicht erfahren wollte, wo er war. Sie begriff nur: Er war weg, weil sie ihre Aufsichtspflicht versäumt hatte, und wenn Josef wußte, wo er war, dann hatte er besser aufgepaßt als sie. Nein, er konnte es gar nicht wissen. Diese Burschen liefen immer weg. Sie hatte es von Anfang an gewußt. Eine Zeitlang ließen sie es sich gut sein, und dann liefen sie davon. Landstreicherkinder. Gesindel. Sie hatte getan, was sie konnte.
Wenn sie nur nicht solche Kopfschmerzen gehabt hätte! Seit Sonntag schienen sie stündlich schlimmer zu werden, und sie mußte doch jetzt ihre Gedanken beisammenhalten, mehr denn je. Es war nicht ihre Schuld. Wie sollte sie denn ahnen, wann es so einem Kerl gerade paßte, davonzulaufen? Niemand konnte ihr einen Vorwurf machen. Oder doch?
Bormanns hatten ihn nicht gesehen, Müntes ebenfalls nicht. Sie rief die Polizei im Dorf an, beschrieb ihn vage: mittlere Größe, ziemlich dünn. Blaß, mit schwarzen Haaren. Man versprach, nach ihm zu suchen, sie gleich zu benachrichtigen, beruhigte sie mit ein paar allgemeinen Redensarten. Jetzt blieb ihr nur eins zu tun: Herrn Ess anzurufen. Das war ihre Pflicht. Der Gedanke zog ihr den Hals zusammen. Das war das Ende. Nicht einmal mehr anständig ausscheiden konnte sie dann, mit einem unverbindlichen Zeugnis, sondern würde fristlos entlassen werden. Pflichtversäumnis war ein ausreichender Grund dazu. Dabei hatte sie ihre Pflicht nicht versäumt.
Sie rang mit sich. Aus dem Park klang das Kreischen der Säge und das helle Fiepen von Ferdis Stimme. Es regnete stärker. Sie wollte nicht noch nasser werden; das Kleid klebte ihr ohnehin schon am Leib. Sie ging zum Telefon hinüber und nahm den Hörer ab. Ihre Hand war so schlaff, daß sie ihn zweimal wieder niederlegen mußte, ehe es ihr gelang: 53 18.
»Hier dreiundfünfzig-achtundzwanzig. Hallo...?«
»Ja — ich wollte, ich möchte — Herrn Ess bitte !« Sie glaubte zu brüllen.
»Hallo — hallo! Ich verstehe nichts. Können Sie nicht lauter sprechen ?«
Sie riß sich zusammen und sagte heiser: »Herrn Ess bitte !« Nun war es entschieden. Ihr Mund war trocken.
»Ach.« Unwillig sagte die Stimme am anderen Ende: »Hier dreiundfünfzig-achtundzwanzig — wen wollen Sie sprechen? Ess? Kenne ich nicht .«
»Verzeihung...« Der Hörer rollte ihr aus der Hand. Drüben machte es »klick«. Sie sank auf den Küchenstuhl und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Falsch verbunden. Die Erleichterung war so groß, daß sie ganz sinnlos lachte. Sie würde Josef fragen. Wie hatte sie nur so unüberlegt sein können! Wieder lief sie durch den Regen auf die Stelle zu, von der nun das »Plop-plop-plop« des Holzhammers kam. »Plop, plop«, ganz sicher und gelassen. Zornig dachte sie: Wie kann er nur so eintönig daherhämmern, wenn jeden Moment Herr Ess mit der Kommission eintrifft und erfährt, daß einer der Jungen weggelaufen ist? Um schneller zur Treppe zu gelangen, lief sie querfeldein. Ginster schlug ihr naß um die Beine; eine Trauerbirke streifte sie wie ein triefendnasser Lappen. Sie leckte achtlos die Tropfen von der Oberlippe. »Wie konnte das nur passieren ?« würde der Chef fragen. »Haben Sie ihn geschlagen, ihn schlecht behandelt? War er gestern anders als sonst ?« Nein, nein, nichts von alledem. Oder war er anders gewesen?
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