13 - Wo kein Zeuge ist
Fingernägel und sah sich im Raum um, als wolle er dessen Zustand überprüfen. All das brachte Lynley wie so oft auf den Gedanken, dass Stewarts Frau wohl mehr als einen Grund gehabt hatte, ihre Ehe zu beenden. »Aufgeschreckte Eltern rufen aus dem ganzen Land an und jammern uns die Ohren voll«, fuhr er fort. »Zweihundert mit vermissten Kindern - bis jetzt. Wir brauchen mehr Leute an den Telefonen.«
Sie saßen in Lynleys Büro und versuchten, eine Umverteilung des Personals auszuarbeiten. Sie hatten nicht genug Leute, und Stewart hatte Recht. Doch Hillier hatte sich geweigert, ihnen weitere Kräfte zuzuteilen, ehe sie nicht ein »Ergebnis« vorzuweisen hatten. Lynley war der Ansicht, das habe er mit der Identifikation eines weiteren Opfers bereits getan: Der vierzehnjährige Anton Reid, das erste Opfer des Mörders, dessen Leiche im Gunnersbury Park gefunden worden war. Anton war ein gemischtrassiger Junge gewesen, der am achten September aus Furzedown verschwunden war. Er war ein Gangmitglied und wegen groben Unfugs, Hausfriedensbruchs, Diebstahls und Körperverletzung verhaftet worden. Das hatten die Beamten der Mitcham-Road-Polizeiwache früher am Tag den Kollegen bei New Scotland Yard übermittelt und zugegeben, dass sie Anton einfach als einen weiteren Ausreißer abgeschrieben hatten, als seine Eltern ihn vermisst meldeten. Die Zeitungen würden aus dieser Sache ein Riesengetöse machen, hatte Hillier Lynley in einiger Lautstärke am Telefon prophezeit, als er die Neuigkeiten hörte. Also wann, zum Teufel, gedenke der Superintendent dem Pressebüro irgendetwas Brauchbareres zu präsentieren als nur die verfluchte Identifizierung eines verdammten Opfers?
»Legen Sie sich ins Zeug«, waren die Abschiedsworte des Assistant Commissioner gewesen. »Ich hoffe nicht, dass ihr Jungs mich da unten braucht, um euch den Arsch abzuwischen. Oder vielleicht doch?«
Lynley hatte sowohl seine Zunge als auch sein Temperament im Zaum gehalten. Er hatte Stewart in sein Büro gerufen, und dort saßen sie nun und gingen die Berichte durch.
Abgesehen von Kimmo Thorne hatte die Sitte definitiv nichts über die identifizierten Jungen. Außer Kimmo hatte sich keiner als Lustknabe, Transvestit oder Straßenstricher betätigt. Und trotz ihrer bewegten Lebensumstände konnte auch keiner von ihnen mit Drogenhandel oder -missbrauch in Zusammenhang gebracht werden.
Die Befragung des Taxifahrers, der Sean Laverys Leiche im Shand-Street-Tunnel gefunden hatte, war ergebnislos verlaufen. Eine Überprüfung des Mannes hatte eine absolut weiße Weste ergeben, nicht einmal ein Strafzettel verunzierte seine Akte.
Der Mazda im Tunnel konnte mit niemandem in Zusammenhang gebracht werden, der auch nur entfernt mit dem Fall zu tun hatte. Da die Nummernschilder abmontiert, der Motor verschwunden und das Chassis ausgebrannt waren, bestand keine Chance, den Halter zu ermitteln, und kein Zeuge konnte sagen, wie er in den Tunnel gekommen oder wie lange er schon dort gewesen war. »Das ist eine totale Sackgasse«, war Stewarts Einschätzung. »Wir könnten die Beamten anderswo sinnvoller einsetzen. Ich schlage vor, dass wir auch die Tatortüberwachung noch mal überdenken.«
»Dort hat sich nichts getan?«
»Nichts.«
»Jesus, wie kann es denn sein, dass niemand irgendetwas Berichtenswertes gesehen hat?« Lynley wusste, seine Frage würde als rein rhetorisch aufgefasst werden, was sie ja auch war. Und er kannte die Antwort selbst: Großstadt. Die Menschen in der U-Bahn und auf den Straßen vermieden Blickkontakte. Die Grundhaltung der Leute - »Ich sehe nichts, ich höre nichts, lasst mich in Ruhe« - war das Übel, das ihre Arbeit als Polizisten so erschwerte. »Man sollte doch meinen, dass wenigstens jemand sieht, wenn irgendwer ein Auto anzündet. Oder ein brennendes Auto bemerkte, Herrgott noch mal.«
»Was das angeht ...« Stewart blätterte seine säuberlich geordneten Papiere durch. »Wir hatten ein bisschen Glück bei der Personenüberprüfung. Um genau zu sein: Bei Robbie Kilfoyle und Jack Veness. Zwei der Kerle von Colossus.«
Beide waren als Jugendliche straffällig geworden, hatte sich herausgestellt. Bei Kilfoyle waren es eher Kleinigkeiten. Stewart offerierte eine Liste mit Dingen wie Schuleschwänzen, Anzeigen aus der Nachbarschaft wegen Vandalismus und Spionieren an Fenstern, wo er nichts verloren hatte. »Magere Ausbeute«, schloss er. »Bis auf die Tatsache, dass er unehrenhaft aus der Army entlassen
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