13 - Wo kein Zeuge ist
etwas Deftiges gebraten, was Kimmo nicht besonders gefallen hatte, weil er auf seine Figur achtete. Anschließend hatte Tante Sal abgewaschen, und Kimmo hatte abgetrocknet.
»Er war genau wie immer«, sagte Tante Sal. »Hat geredet, mir Geschichten erzählt und mich zum Lachen gebracht, bis ich Bauchschmerzen davon bekam. Er konnte wirklich mit Worten umgehen. Es gab einfach nichts, woraus er nicht ein Stück machen und es vorführen konnte. Und singen und tanzen ... Der Junge konnte sie alle, es war die reinste Magie.«
»Konnte sie?«, hakte Nkata nach.
»Judy Garland. Liza. Barbra. Dietrich. Sogar Carol Channing, wenn er die Perücke aufsetzte.« In letzter Zeit hatte er auch hart an Sarah Brightman gearbeitet, sagte Tante Sal, nur mit den hohen Tönen hatte er sich schwer getan, und die Hände klappten noch nicht richtig. Aber er hätte es hinbekommen, er hätte es hinbekommen, Gott segne den Jungen, nur jetzt ...
An dem Punkt verlor Tante Sal die Fassung. Sie fing an zu schluchzen, während sie zu sprechen versuchte, und Barbara warf einen Blick zu Nkata hinüber, um festzustellen, ob er zu der gleichen Einschätzung über diese kleine Familie gekommen war wie sie. So eigenartig Kimmo Thorne auch gewesen sein mochte und ausgesehen hatte, war er doch eindeutig der Lebensmittelpunkt für seine Tante und Großmutter gewesen.
Gran nahm die Hand ihrer Tochter und drückte das häschenverzierte Taschentuch hinein. Dann setzte sie den Bericht fort.
Nach dem Abendessen hatte er Marlene Dietrich für sie gegeben: »Falling in Love Again«. Der Frack, die Netzstrümpfe, die hochhackigen Schuhe, der Zylinder ... selbst das platinblonde Haar mit der leichten Welle. Ein perfektes Double war ihr Kimmo gewesen. Und dann, nach der Show, war er ausgegangen.
»Um wie viel Uhr war das?«, fragte Barbara.
Gran sah auf eine Digitaluhr, die auf dem Fernseher stand. »Halb elf? Was meinst du, Sally?«
Tante Sal tupfte sich die Augen. »So ungefähr.«
»Wo wollte er hin?«
Das wussten sie nicht. Aber er hatte erzählt, dass er mit Blinker losziehen wollte.
»Blinker?«, fragten Barbara und Nkata wie aus einem Mund.
Blinker, bestätigten sie. Sie wussten nicht, wie der Junge mit Nachnamen hieß. Anscheinend war Blinker männlich und Angehöriger der menschlichen Spezies. Aber was sie mit Sicherheit wussten, war, dass er der Grund für alle Schwierigkeiten war, in die ihr Kimmo je geraten konnte.
Das Wort Schwierigkeiten erregte Barbaras Interesse, aber sie überließ es Nkata, die Frage zu stellen: »Was für Schwierigkeiten?«
Keine richtigen Schwierigkeiten, versicherte Tante Sal. Und nichts, was er je von sich aus angefangen hätte. Es war nur so, dass dieser verdammte Blinker - »'tschuldigung, Mum«, fugte sie hastig hinzu - ihrem Kimmo irgendwelches Zeug gegeben hatte, das Kimmo irgendwo verhökert hatte, nur um dann beim Verkauf gestohlener Gegenstände erwischt zu werden. »Aber dieser Blinker war schuld«, betonte Tante Sal. »Unser Kimmo war vorher noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten.«
Das muss sich wohl erst noch herausstellen, dachte Barbara. Sie fragte, ob die Thornes ihnen sagen konnten, wo Blinker zu erreichen war.
Sie hatten keine Telefonnummer, aber sie wussten, wo er wohnte. Sie meinten, es sollte nicht schwierig sein, ihn morgens ausfindig zu machen, denn das eine, was sie über ihn wussten, war, dass er sich die ganze Nacht am Leicester Square rumtrieb und bis ein Uhr mittags schlief - und zwar bei seiner Schwester auf dem Sofa. Die wohnte mit ihrem Mann im Kipling Estate nahe dem Bermondsey Square. Tante Sal wusste nicht, wie die Schwester hieß, hatte auch keine Ahnung, was Blinkers richtiger Name sein mochte, aber sie nahm an, wenn die Polizei in der Gegend nach jemandem namens Blinker fragte, könnte ihnen bestimmt irgendwer weiterhelfen. Blinker war jemand, der es immer verstand, den Menschen aufzufallen.
Barbara fragte, ob sie einen Blick auf Kimmos Sachen werfen dürften. Tante Sal brachte sie zu seinem Zimmer. Der Raum war mit Bett, Frisiertisch, Schrank, Kommode, Fernseher und Stereoanlage hoffnungslos überfüllt. Auf dem Frisiertisch stand eine Kosmetiksammlung, auf die Boy George stolz gewesen wäre. Die Oberseite der Kommode beherbergte fünf Perückenständer. Die Wände waren mit professionellen Porträtfotos jener Frauen bedeckt, von denen Kimmo anscheinend inspiriert worden war, von Edith Piaf bis Madonna. Der Junge hatte einen weitreichenden Geschmack, das musste man ihm
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