130 - Das Mädchen mit den Monsteraugen
Aber da war keine.
Sie war am Rand der Wüste.
Kraftlos kam sie endlich auf die Beine und drückte die Blätter und Zweige beiseite, um besser sehen zu können.
Der Druck auf ihrem Kopf war noch immer stark, aber langsam setzte ihr Erinnerungsvermögen ein: Sie war von zu Hause geflohen. Edgar hatte sie mit Bettes Tod in Verbindung gebracht. Völlig absurd war das, damit hatte sie nichts zu tun.
Vivian Mails Blick schweifte in die Runde.
So weit das Auge reichte, hügeliges Savannenland, hie und da unterbrochen von einem Busch, einem Strauch, einem einzeln stehenden Baum. Dahinter Hügel und Wüste.
Vivian Mail sah vor ihrem geistigen Auge nochmal die Ereignisse der Nacht vorbeiziehen. Mit dem Mercury war sie ins Hinterland gefahren, um zunächst der Verfolgung zu entgehen. Edgar würde bestimmt annehmen, daß sie zu einer Freundin oder Bekannten fuhr und dort Unterschlupf suchte.
Aber da hatte er sich geirrt.
Ihr Ziel war Vuluvulu gewesen, jenes kleine Hüttendorf aus Zweigen und Papierrinde, das eines der wenigen Eingeborenendörfer war, in dem ständig etwa zwanzig Menschen lebten. Die Ur-Australier waren nur schwer seßhaft geworden. Die meisten jener aussterbenden Rasse, von denen es nur noch rund dreißigtausend Angehörige gab, waren nach wie vor Nomaden und ernährten sich von der Jagd und vom Sammeln eßbarer Pflanzen und Wurzeln.
Unweit von Vuluvulu gab es zwischen hohen Erdhügeln eine Talsenke, die von den Eigeborenen als heilig verehrt wurde. Nur Männer durften dorthin, die Dorfältesten und Medizinmänner. Es war das »Tal des Ur-Traums«, wie es die Aborigines - die an Neandertaler erinnernden Ureinwohner dieses Kontinents bezeichnete man so - in 'ihrer an Selbstlauten reichen Sprache nannten.
Dorthin hatte sie sich begeben wollen, nur für diese Nacht, um erst einmal außerhalb des Zugriffes ihres Mannes und der Polizei zu sein.
Vivian Mail kannte in unmittelbarer Nähe dieses Tabu-Ortes ein paar hervorragende Verstecke.
Sie wußte genau, daß sie mit dem Auto bis dorthin gefahren war und im Wagen dann die Nacht verbracht hatte.
Sie war im Auto eingeschlafen, aber in einer völlig fremden Umgebung aufgewacht.
Sie besah sich ihre Hände und tastete ihren Körper ab.
War sie gewaltsam entführt worden? Dann hatte man sie möglicherweise niedergeschlagen, es war zu einer Auseinandersetzung gekommen, in deren Verlauf sie Verletzungen davongetragen hatte. Aber sie entdeckte keine.
Vivian Mail wurde zusehends nervöser.
Der Wagen war verschwunden und befand sich mit Sicherheit noch dort, wo sie ihn abgestellt hatte. Aber wie weit sie davon entfernt war, hätte sie nicht zu sagen vermocht. .
Im Schlaf hatte irgend jemand sie überwältigt, sie entweder etwas Betäubendes einatmen lassen oder ihr einen Trank eingeflößt, der sie todmüde gemacht hatte. Besinnungslos war sie dann aus dem Fahrzeug genommen und verschleppt worden.
Wie weit sie ins Hinterland gebracht worden war, wußte sie nicht.
Sie mußte schon froh sein zu erkennen, daß sie offenbar eine Nacht und einen Tag hier gelegen hatte, versteckt unter den Zweigen der Büsche, damit sie durch einen zufällig vorbeikommenden Abenteurer oder Eingeborenen-Jäger oder -Sammler nicht gesehen wurde.
Sie sollte auf elegante Weise beseitigt werden.
Sie fühlte sich aber zu schwach, und ihre Überlegungen waren zu verworren, als daß sie damit eine plausible Erklärung für alles fand.
Sie mußte versuchen, eine Piste zu finden, in der Hoffnung, daß dort hin und wieder auch ein Fahrzeug vorbeikam. Wo hier allerdings eine Piste sein könnte, entzog sich ihrer Kenntnis.
Sie war auf das Glück angewiesen.
So hatte sie sich ihre Flucht allerdings nicht vorgestellt.
Es war kein Zufall, daß sie ausgerechnet in der Nacht in die Nähe von Vuluvulu und das »Tal der Ur-Träume« gefahren war. Dort hatte sie vor achtzehn Jahren ihre Tochter geboren, in dem Tal, dessen Zugang nur den männlichen Dorfältesten und Medizinmännern gestatte war. Sie war damals in eine äußerst schwierige Situation geraten, und in diesen Konflikt hatte sie die Eingeborenen mit hineingezogen. Die waren zwischen Angst, weil sie etwas Verbotenes getan hatten, und Pflicht, ihr bei der Geburt zu helfen, hin- und hergerissen worden.
Mechanisch setzte sich Vivian Mail in Bewegung.
Das Laufen fiel ihr schwer. Ihr fehlte die Kraft. Sie hatte lange nichts gegessen. Viel wichtiger aber wäre für sie Flüssigkeit gewesen.
Ihr Mund war trocken, und die Zunge darin
Weitere Kostenlose Bücher