1307 - Die toten Frauen von Berlin
retten, steht an oberster Stelle. Da sollten Sie über Ihren eigenen Schatten springen, obwohl wir Sie nicht zwingen können.«
»Gut, dass Sie es einsehen.« Sie hatte die Antwort mit harter Stimme gegeben, senkte dann den Kopf und flüsterte: »Bitte, Sie müssen auch ein Nachsehen mit mir haben. Es ist wirklich nicht einfach für mich. Was ich hinter mir habe, das gönne ich keinem. Ich will aus der Stadt raus und wieder zurück in meine Heimat nach Bath. Das hier war zu viel.«
»Klar«, sagte Harry, »dafür haben wir ja Verständnis. Nur müssen wir auch weiterkommen.«
»Das verstehe ich.« Sie schaute sich in der Wohnung um. »Ich denke, dass ich in der Botschaft bleiben kann, bis alles vorbei ist. Dann werde ich meine Wohnung hier auflösen und wieder zurück nach England gehen. Ich habe früher im Außenministerium gearbeitet, und dort werde ich auch wieder einen Job finden.«
»Zweifelsohne«, erwiderte ich. »Möchten Sie vielleicht noch etwas zusammenpacken?«
»Das habe ich schon. Die Tasche steht im Flur. Nicht weit von der Tür entfernt.«
»Gut, dann können wir.«
Ich hatte mir die Sache zwar anders vorgestellt, aber die Dinge laufen eben nicht immer so, wie man es sich denkt. Kompromisse zu schließen, gehört nun mal zum Leben.
Im engen Flur stand tatsächlich die prall gefüllte Reisetasche auf dem Boden. Beinahe wäre ich noch über sie gestolpert. Hinter mir machte Harry Licht.
Ich wollte die Tasche anheben, aber Eve Sandhurst kam mir zuvor. »Nein, nein, das ist meine Sache. Sie können schon vorgehen und mir die Tür aufhalten.«
»Bitte.«
Eve reagierte etwas katzenhaft. Ich lächelte in mich hinein.
Wenig später schaute ich wieder in den schlichten Flur mit dem Einheitsgrau, in dem man trübsinnig werden konnte. Hier brannte Tag und Nacht das Licht, denn es gab keine Fenster, die Helligkeit hereinließen.
Wir mussten nach rechts gehen, um den Lift zu erreichen. Ich sah die Tür und davor eine Frau, die eine ochsenblutfarbene Jacke aus Lederimitat trug. Sie wartete auf den Lift. Um ihre Schulter hatte sie eine Beuteltasche gehängt. Zwischen den Lippen steckte eine Zigarette, die allmählich verqualmte.
Sie wartete auf die Kabine, und das würden wir auch tun müssen. Es konnte lange dauern, denn einen zweiten Aufzug hatte ich in diesem Haus nicht entdeckt.
Ich sah sonst niemanden und ging auf die Frau zu. Sie sah mich zwar kommen, warf mir einen schiefen Blick zu, sagte aber nichts.
Sie nahm nur die Zigarette aus dem Mund und drückte sie in einem kleinen Ascher aus, der an der Wand befestigt war.
Ich stand der Frau am nächsten und musste zugeben, dass sie nicht eben wie eine Verkäuferin aus der Parfümerie roch. Die Klamotten verströmten einen muffigen Geruch. Das schwarz gefärbte Haar sah auf dem Kopf aus wie ein dichtes Spinnennest oder Wollknäuel. Die Hosenbeine zeigten auf dem grauen Tuch in der unteren Hälfte Flecken.
Der Lift kam.
Ich hörte den zufriedenen Laut der Frau, die sofort nach dem Griff der Tür fasste und sie aufzog. Sie betrat die kleine Kabine auch als Erste von uns drei Mitfahrern.
Zwei Personen hatten schon nicht viel Platz. Für vier Personen wurde es verdammt eng. Da wurden wir regelrecht zusammengequetscht. Der letzte Rauch der Zigarette wehte noch mit in die Kabine hinein. Wie ein Schleier schwebte er über unseren Köpfen.
Harry hatte den Lift als Letzter betreten. Er zog die Tür zu und musste sich schon winden, um an die Tafel zu gelangen, auf der sich die Leiste der Knöpfe abzeichnete.
Da die fremde Frau nichts gesagt hatte, drückte Harry auf den Knopf zum Erdgeschoss. Ich hoffte nur, dass dies in einer Tour durchging, denn besonders wohl fühlte ich mich in diesem Käfig nicht. Allerdings musste man in einem so großen Haus damit rechnen, dass der Lift einige Male stoppte.
Ich drehte der fremden Frau den Rücken zu, während Eve direkt vor mir stand. Ihre Haut strömte noch den Geruch des Duschgels aus. Es tat gut, ihn zu riechen. Das Gesicht war noch immer blass, trotz des Make-ups, das sie aufgelegt hatte.
»Sind Sie noch immer sauer auf mich?«, fragte sie leise.
»Nein, das war ich nie.«
»Ich habe Ihnen doch nicht…«
»Es ist allein Ihre Sache, Eve. Man kann keinen Menschen zwingen. Weder zu seinem Vor- noch zu seinem Nachteil. Das ist nun mal so, und damit muss man sich abfinden.«
»Danke, dass Sie so denken.«
Die Kabine hielt.
»Oh, sind wir schon da?«
»Nein, erst im vierten Stock«, meldete Harry.
Die
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