1318 - DORIFER
13.51 Uhr. Am Abend des 28.
Februar war er von DORIFER-Station aufgebrochen. Seitdem hatte er das Chronometer, soweit er sich erinnerte, nicht mehr zu Rat gezogen. Über die verflossene Zeit hatte NARU Buch zu führen.
Im Nachhinein konnte er sich nicht recht erklären, wo er 65 Stunden verbracht haben sollte. Das Abenteuer auf der Fiktivwelt Pailliar hatte gewiß nicht mehr als zwölf Stunden gedauert. Der Flug von der Station nach DORIFER-Tor war kurz gewesen, ebenso der Aufenthalt im Innern des Nukleotids bis zu Eirenes Erscheinen.
Wo also waren die Stunden geblieben?
„Vergiß nicht, daß wir uns zwischen verschiedenen Ebenen der Realität hin und her bewegen", sagte Eirene. „Da geht auch der Zeitablauf unkonventionelle Wege."
Diesmal hatte sie seine Gedanken nicht zu lesen brauchen. Der Blick auf das Chronometer und sein nachdenkliches Gesicht waren Hinweis genug gewesen.
„Ich frage mich, wie viel Zeit hier inzwischen vergangen ist", sagte er.
„Hier? Wo hier?" erkundigte sich das Mädchen.
Er wies in Bugrichtung.
„Hier im Standarduniversum", antwortete er. „Ich weiß zwar nicht, wo wir sind. Aber DORIFER liegt offenbar hinter uns."
„NARU, klär ihn auf", sagte Eirene.
„Verbindliche Daten besitze ich nicht", erklärte die Kapsel bereitwillig. „Aber es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß wir DORIFER verlassen haben."
„Wir sind noch immer im Innern des Nukleotids?" fuhr Atlan auf.
„So sieht es aus."
„Auf einer anderen Ebene der Pararealität", fügte Eirene hinzu.
Die Enttäuschung traf ihn wie ein Schlag. Er begriff zwar nicht, was in den vergangenen Stunden geschehen war, aber er war bereit, es zu akzeptieren.
Gleichzeitig hatte er Erleichterung empfunden. Sie waren dem Mahlstrom der Akausalität entronnen. Sie waren verschollen gewesen und hatten den Weg in die Wirklichkeit zurückgefunden. Keinem anderen Netzgänger war dies je gelungen.
So hatte er geglaubt. Und jetzt das! Hilflos sah er Eirene an.
„Was wird nun?" fragte er niedergeschlagen.
„Ich weiß es nicht", sagte sie und lächelte noch immer. „Wir sind vom Kurs abgekommen und müssen ihn wiederfinden. Bis dahin sind wir einer willkürlichen Abfolge potentieller Zukünfte ausgeliefert. Hier in der Leere nach einem Ausweg zu suchen, erscheint mir zwecklos. Die Lichtflecke dort vorne stellen eine Gruppe von Galaxien dar. Dorthin sollten wir uns wenden. Wir brauchen den Kontakt mit einer hochentwickelten Zivilisation."
Atlan kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. War das das Mädchen, dem er noch vor wenigen Jahren Spielzeug zum Geburtstag geschenkt hatte? Was war aus dem Teenager geworden, der erst vor knapp sechs Monaten den Abdruck des Einverständnisses erhalten und damit den Status eines Gängers des Netzes erlangt hatte? Wie viel Umsicht, wie viel Überlegung sprachen aus Eirenes knappen Worten!
„Außerdem", fügte sie hinzu, „glaube ich nicht, daß sie das umsonst gemacht hat."
„Was?" fragte Atlan verwirrt. „Was hat sie gemacht?"
„Uns gerettet", antwortete Eirene. Sie bemerkte seine Verwirrung nicht, weil sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt war. „Sie hat uns vor dem Chaos auf Pailliar bewahrt, nehme an, sie will eine Gegenleistung dafür haben. Dabei bietet sich uns die Möglichkeit..."
„Wer will eine Gegenleistung?" fiel der Arkonide ihr ungeduldig ins Wort, Verwundert sah Eirene auf. Es war ihr unverständlich, daß er die Zusammenhänge nicht begriff.
„Si kitu", sagte sie. „Wer sonst?"
*
Sie saßen nebeneinander auf der schmalen Liege. Den kleinen Tisch hatten sie zwischen sich aufgeklappt. Zwei Becher mit Getränken standen darauf. Von Zeit zu Zeit nippten sie daran.
„Es tut mir leid", sagte Eirene, „aber ich kann deine Fragen nicht beantworten. Die Informationen, die du suchst, stecken irgendwo in meinem Bewußtsein, aber ich komme nicht ohne weiteres an sie heran."
Er hatte sie danach gefragt, woher sie wußte, daß der Zwerg mit den abstehenden Ohren ihnen Hilfe bringen würde. Er hatte wissen wollen, woher sie die Kenntnis besaß, daß der Leerraum, den man durch die Bugkanzel erblickte, nicht das Realuniversum, sondern eine von DORI-FERS potentiellen Zukünften war. Und schließlich hatte er sie gefragt, wer Si kitu war, jene Entität, deren Namen sie dreimal ausgerufen hatte, als das Heraldische Tor auf Pailliar zusammenbrach.
Inzwischen hatte er nämlich seine anfängliche Verwirrung überwunden und in seiner Erinnerung die Erklärung dafür
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