1417 - Der Würgeengel
ihn nicht genoss. Sie konnte einfach nicht genug davon bekommen. Es war wunderbar, dem Spiel der Wellen zuzuschauen.
Am meisten Spaß machte es ihr, wenn die große Doppeltür offen stand und sie auf den halbrunden Balkon treten konnte. Er war mit Töpfen bestückt, in denen Blumen und Pflanzen ihre Heimat gefunden hatten, sodass bunte Farben durch das Grün schimmerten.
Sie genoss dann das allgemeine Bild, was ihrer Seele mehr als gut tat. Es war ihr Reich. Hier redete ihr niemand rein. Überhaupt herrschte sie in diesem Haus wie eine kleine Königin. Was sie sagte, wurde getan. Widerspruch gab es nicht. Weder bei den Mitarbeitern noch bei den Insassen, von denen die meisten sowieso froh waren, in der Residenz sein zu dürfen und nicht in einer trüben Großstadt.
Minutenlang stand sie im Freien. Das Grau des vergangenen Tages und der Sprühregen hatten sich verflüchtigt. Endlich zeigte sich auch die Mai-Sonne, die sich so lange versteckt gehalten hatte. Ihr warmer Schein dampfte auf den Wiesen die Feuchtigkeit weg.
Laubbäume wuchsen auf dem parkähnlichen Außengelände. Allerdings waren sie so gepflanzt worden, dass sie den Blick nicht beeinträchtigten. Selbst bei vollem Laubbestand nicht.
Minutenlang saugte Elaine Cerny den Blick in sich ein. Dann hatte sie genug, drehte sich um und ging zurück in ihr Büro. Daran schlossen sich auch die privaten Räume an. Sie waren von zwei Seiten begehbar. Einmal vom Büro aus und zum zweiten vom Flur her.
Beide Türhälften drückte sie wieder zu. Obwohl der Raum recht groß war, vermittelte er nicht das Gefühl von Freiheit wie der Blick vom Balkon. Vielleicht lag es an den hohen Wandschränken, die mit Akten und Büchern gefüllt waren. Das dunkle Holz strahlte etwas Gediegenes und Konservatives aus. Die mächtige Lampe unter der Holzdecke besaß schon die Ausmaße eines Kronleuchters.
Elaine Cerny hatte darauf bestanden, den Schreibtisch in die Mitte des Büros zu stellen. Von diesem Platz aus hatte sie alles unter Kontrolle. Hinter dem großen Schreibtisch, der natürlich mit einem Computer nebst Drucker bestückt war, stand ein mit dunklem Leder überzogener Vitra-Stuhl.
Elaine Cerny trug eine hellbeige Hose mit etwas ausgestellten Beinen und dazu einen himbeerfarbenen Pullover, der locker fiel und ihr bis zur Taille reichte. Das dunkle Haar hatte sie nach hinten gekämmt und dort zusammengesteckt. Das machte ihr Gesicht schmaler und ließ die Wangen eingefallen erscheinen.
Ein breiter Mund, dichte Augenbrauen und eine etwas lang gezogene Nase ließen sie fast aussehen wie ein Mann. Hinzu kam die Figur, die ebenfalls nur wenig Frauliches aufwies.
Der Tag war noch recht jung, und sie dachte darüber nach, was noch folgen würde. Dabei wusste sie, dass es mal wieder ›so weit war‹. Und so wartete sie jetzt auf ein bestimmtes Ereignis, das auch eintrat.
Zuerst spürte sie den Hauch. Er strich an ihrem Gesicht entlang und berührte auch den Nacken. Die Kälte rann über ihre Haut hinweg, erreichte den Rücken und blieb dort.
Sie wartete auf die Folge dessen, was sie erlebt hatte. Sie wusste, dass der Besucher da war, sich aber noch nicht zeigte.
Die Kühle verschwand und wurde von etwas anderem abgelöst.
Zuerst war es nur ein Zischeln, aber die menschliche Stimme kristallisierte sich bereits daraus hervor.
Ein hellgrauer Nebelstreif erschien. Er tanzte für einen Moment über den Boden hinweg, drehte sich und verdichtete sich dabei, sodass Konturen entstanden.
Der Engel war da!
Die Cerny hielt den Atem an. Noch immer krabbelte etwas Kaltes ihren Rücken hinab. Es dauerte immer eine Weile, bis Elaine sich an den nicht so leicht erklärbaren Anblick gewöhnt hatte. Es war kein Mensch, aber sie wusste auch nicht, ob es sich bei dieser Gestalt um einen Mann oder eine Frau handelte.
Sie war neutral. Ein Etwas, das auf dieser Welt eigentlich nicht vorkam.
Sie sagte keinen Ton und schaute nur zu, wie sich die Gestalt allmählich verdichtete. Kein Fleisch, kein Blut, keine Knochen, aber es gab eine Masse, die den Körper ausfüllte.
Endlich sah sie auch ein Gesicht. Es war recht flach. Ohne einen bestimmten Ausdruck. Da sich im Gesicht auch keine richtigen Lippen befanden, gab es keinen normalen Mund. Nur eine Öffnung, aus der das Zischen gekommen war.
»Hallo, Elaine«, säuselte der Engel nun. »Du hast bereits auf mich gewartet?«
»Das habe ich.«
»Ich hatte noch etwas zu tun.«
»Kannst du darüber sprechen?«
»Ja.«
»Kann ich dir dabei
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