1421 - Totenklage
Falten. Der Abschied war schon recht überraschend für sie gekommen. Sie kannte den Grund nicht. Wahrscheinlich waren ihm die Fragen nicht recht gewesen.
Sie blieb weiterhin sitzen und schaute den Vögeln nach, die ihren Weg durch die Luft fanden. Sie ließen sich mal auf den Dächern nieder oder verschwanden hin und wieder im dichten Laub der Bäume.
Gern hätte Elena ihre Stimmen gehört, doch diese natürliche Musik blieb ihr leider verschlossen.
Sie gab sich einen Ruck und stand auf.
Genau da erwischten sie die Stimmen. Wieder war die Botschaft vorhanden. Erneut hörte sie das Jammern und Klagen der gequälten Seelen. Ihre leisen Schreie, ihre Wehlaute, die ihren Kopf ausfüllten.
Aber es war nicht mehr wie zuvor. Seit sie den Mörder gesehen hatte, der sein Opfer dem Sumpf übergeben hatte, fürchtete sie sich vor den Stimmen der Toten, denn sie hatte das Gefühl, als ob sie in etwas hineingezogen werden sollte, das auch ihr den Tod bringen konnte.
»Nein!«, flüsterte sie vor sich hin. »Nein, nicht schon wieder. Bitte nicht, bitte…«
Die Stimmen hörten nicht auf sie. Sie verschwanden nicht. Sie blieben bei ihr. Sie jammerten und klagten, und Elena empfand diesen Singsang als schrecklich.
»Was wollt ihr denn von mir? Bitte, sagt es!« Jetzt sprach sie die Stimmen direkt an und hoffte auf eine Antwort. Aber die wurde ihr nicht gegeben. Nur der Singsang wehte durch ihren Kopf, der für sie zu einer regelrechten Qual wurde. Dabei hatte Elena das Gefühl, dass die Verursacher der Stimmen direkt in ihrer Nähe standen, was aber nicht zutraf. Sie hielten sich irgendwo im Verborgenen auf, und es brachte auch nichts, wenn sie nach oben schaute. Dort sah sie nur das grüne Blätterdach.
Die Stimmen ebbten ab. Während das passierte, glaubte Elena, einige Worte zu hören. Leider waren sie nicht klar und deutlich gesprochen, aber schon zu hören, sodass diese Stimmen zu einer Qual wurden und sie die Augen schloss.
Es wurde wieder still.
Elena blieb trotzdem sitzen. Das Hören der Stimmen hatte sie angestrengt. Sie brauchte eine kleine Pause, um zu sich selbst zu finden. Erst als Minuten verstrichen waren, fand sie die Kraft, sich wieder zu erheben, um den Rückweg anzutreten.
Sehr forsch und von einer guten Lauen getrieben, hatte sie das Haus verlassen. Jetzt bewegte sich die junge Frau schleppend. Als läge auf ihrem Rücken eine große Last, die sie immer tiefer drückte.
Es war eine Folge der Angst, die sie überfallen hatte. Dagegen konnte sie sich nicht wehren.
Das helle Licht verschwand, nachdem sie den Hausflur betreten hatte. Die Tür fiel hinter ihr zu, und sie blieb im Halbdunkel stehen.
Mit der rechten Schulter lehnte sie sich gegen die Wand. In der Kühle des Flurs musste sie zunächst nach Luft schnappen, und dabei wollte der Druck auf ihrer Brust nicht weichen.
Wie eine alte, gehbehinderte Frau schlich sie die Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Mit der rechten Hand hielt sie sich am Geländer fest. Die Einkaufstasche war schwer wie Eisen geworden, und sie schleppte sich in ihre Wohnung hinein.
Dort lockte das Bett, obwohl sie nicht viel gearbeitet hatte und eigentlich nicht hätte erschöpft sein können. Aber es war so. Die Knie waren ihr weich geworden, und als sie endlich auf dem Rücken lag, rollten Tränen aus ihren Augen…
***
Unsere Abfahrt hatte sich verspätet. Es lag nicht unbedingt an uns, sondern mehr an den Umständen. Bill hatte von verschwundenen Personen berichtet, und da wollte ich nachforschen.
Es gab dieses Rätsel tatsächlich. Die Menschen – zumeist ältere – waren von einem Tag zum anderen spurlos verschwunden. Man hatte sogar eine Sonderkommission gebildet, aber aufgeklärt hatte man nicht einen Fall. Von den fünf Menschen war niemand wieder aufgetaucht, weder lebend noch tot. Sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben, woran natürlich keiner glaubte. Man ging von einem Serienmörder aus, der in einer ländlichen Umgebung sein Unwesen trieb.
Keine Spuren, keine Abschiedsbriefe. Nichts, was die Kollegen weitergebracht hätte. Auch von Bekannten und Freunden der Verschwundenen hatten sie keine Hinweise erhalten. Das große Rätsel oder auch das große Verbrechen war bisher ungesühnt geblieben.
Auffällig war nur, dass es alte Menschen waren, die keine finanziellen Polster mehr hatten, obwohl diese vorher da gewesen waren.
Leer geräumte Konten, auch kein Bargeld in der Wohnung, man hatte also ein Motiv. Geldgier. Aber wer die Menschen dazu gebracht
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