1425 - Medusas Vermächtnis
Person bisher kein Wort gewechselt. Trotzdem spürte ich die besondere Aura, die sie ausstrahlte und auf meiner Haut ein leichtes Prickeln hinterließ. Sie war schon etwas Besonderes, und sie zog auch die Blicke der anderen Gäste auf sich, was sicher nicht an ihrer funkelnden Kette lag, die sie um den Hals trug.
Die schaute ich mir genauer an und blieb für einen Moment starr sitzen. Dass die Kette aus Gold bestand, war nicht das Außergewöhnliche. Es ging mir mehr um das Motiv, das trotz seiner Häufigkeit stets gleich blieb. Die Kette setzte sich aus zahlreichen kleinen Schlangen zusammen, die miteinander verbunden und auch ineinander verschlungen waren.
Das hatte mich so verwundert und mich für einen Moment in eine Starre verfallen lassen.
Ich sagte nichts. Nur meine Gedanken schlugen Purzelbäume, und ich bekam zudem schweißfeuchte Hände.
War es ein Zufall, dass sich diese Frau hier neben mich gesetzt hatte?
Ich tippte darauf, denn sie hatte wohl nicht wissen können, dass ich mich für Schlangen interessierte, die sich auch auf der Oberfläche ihrer Ringe befanden. Jeder Stein zeigte den Einschluss einer winzigen Schlange.
Wer war sie? Hatte wieder mal das Schicksal eingegriffen, mit dem ich ständig konfrontiert wurde?
In meinem Kopf lief so einiges durcheinander, aber ich behielt die Ruhe und wollte auch zunächst kein Gespräch mit ihr anfangen. Sie würde wohl noch etwas länger hier sitzen bleiben, denn der Ober servierte ihr ein Glas Weißwein und schob auch die Schale mit Knuspergebäck in ihre Nähe.
Ich nuckelte an meinem Wasser. Eigentlich hatte ich schon verschwinden wollen, aber die unmittelbare Nähe der Frau bannte mich auf dem Hocker. Ich bestellte ebenfalls ein Glas Wein und noch eine frische Flasche Wasser.
Das Vibrieren in meinem Innern hatte nicht aufgehört. Gegenüber saß ein Mann, der die Unbekannte nicht aus den Augen ließ und ihr sogar zuprostete.
Eine Geste, die sie nicht erwiderte. Sie blieb cool und kümmerte sich um nichts.
Bis auf eine Ausnahme, und die war ich. Sehr leise sprach sie mich an und fragte: »Warum starren Sie mich von der Seite her an?«
»Ich denke nach und entschuldige mich, dass ich Sie einige Male angeschaut habe.«
»Das bin ich gewohnt.«
»Sie haben interessante Ringe, und auch das Motiv der Kette ist sehr ungewöhnlich.«
»Stimmt!«, erklärte sie knapp.
»Sie lieben Schlangen?«
Die Frau wandte mir ihren Kopf zu, damit sie mir ins Gesicht schauen konnte. »Ja, ich mag sie.«
»Das ist ungewöhnlich.«
»Warum?«
»Weil die Schlange in der Bibel die Verkörperung des Bösen ist.«
»Aha. Es ist Ansichtssache. Für Nietzsche war sie das Symbol der Klugheit. Und die Schlange, die sich selbst in den Schwanz beißt, ist das bekannte Symbol der Ewigkeit, des Wechsels von Werden und Vergehen. Selbst Goethe schrieb ein Märchen von der grünen Schlange. Es ist in den Unterhaltungen deutscher Auswanderer eingefügt. Sie sehen, dass man sie so und so sehen kann.«
»Und Sie mögen Schlangen?«
»In der Tat.«
»Haben Sie auch beruflich mit ihnen zu tun?«
Zum ersten Mal sah ich die Frau lächeln. »Nein, das nicht. Oder ja, wenn Sie es so sehen wollen.«
»Jetzt haben Sie meine Neugierde noch mehr angestachelt.«
»Ich bin Malerin.«
»Ah!« Ich gab mich sehr interessiert. »Dann malen Sie bestimmt auch Schlangen.«
»Hin und wieder.«
»Und es gibt dann Menschen, die Ihre Schlangenbilder kaufen?«
»Hin und wieder schon. Nicht für alle ist die Schlage ein negatives Symbol.«
»Das habe ich jetzt begriffen. Als Malerin werden Sie sich bestimmt intensiv mit ihr beschäftigt haben, denke ich mir. Aber mein Verhältnis zu ihnen ist nicht eben positiv.«
»Das kann ich durchaus verstehen. Die meisten Menschen mögen die Schlangen nicht.«
»Sie haben vorhin gesagt, dass Sie malen. Und es beginnt heute die Kunstmesse. Dann darf ich davon ausgehen, dass auch Ihre Bilder dort ausgestellt sind?«
»Das dürfen Sie.«
Ich lächelte. »Ich hatte vor, einen Rundgang über die Messe zu machen. Sagen Sie mir, welcher Galerist Sie ausstellt?«
»Die Galerie Schultz. Ich kann Ihnen leider die Standnummer nicht geben, aber Sie werden sie finden, denn Michael Schultz gehört zu den größeren Ausstellern.«
»Danke, den Namen werde ich mir merken.«
Meine Nachbarin schaute auf ihre Uhr. »Ich denke, dass es allmählich Zeit für mich wird.«
»Stimmt. Heute ist die Vernissage.«
»Für geladene Gäste.«
»Schade.«
Sie winkte ab. »Die
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