1439 - Totenfeld
einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Es war ihr im Prinzip egal, was Ari fotografierte. Er sollte nur nicht ankommen und ihr die Aufnahmen zeigen wollen. Deshalb drehte sie sich auch so hin, dass sie nicht auf den Bildschirm schauen musste, Ari hatte seine Kamera angeschlossen. An diesem Tag war er produktiv gewesen. Er hatte zwei Leichen vor die Kamera bekommen. Die erste hatte er am Morgen fotografiert. Da hatte er von einer Selbstmörderin erfahren, die sich auf einem Spielplatz den goldenen Schuss gegeben hatte. Ein Freund bei der Polizei hatte ihm den Tipp gegeben. So hatte Ari einige Aufnahmen von einer Leiche schießen können, die nicht für den Fotografen extra drapiert war.
Sie hatte im Sand unter einem Schwingreifen gelegen. Schneewittchen hätte nicht anders aussehen können. Schwarzes Haar, ein blasses Gesicht. Nur der Sand in den Haaren störte.
Das sah er jetzt wieder auf dem Foto. Schade um die Kleine. Sie war höchstens zwanzig.
Von Drogen jeglicher Art hatte Ari immer die Finger gelassen. Er wusste zu gut, wie das oftmals endete. Auch sein eigener Bekanntenkreis war davon betroffen worden.
Für seine spätere Ausstellung war die Tote ein Volltreffer. Weil sie eben noch so gut aussah.
»Willst du wirklich nichts trinken, Ari?«
»Doch. Bring mir einen Vodka.«
»Pur?«
»Wie immer.«
Er hörte es gluckern und kümmerte sich weiter um die Fotos der zweiten Leiche, die er vor kurzem geschossen hatte.
Diese Leiche sah ganz anders aus. Ein typischer Toter. Ein Greis, der aus dem Leben gerissen worden war und ein langes Leiden hinter sich hatte.
»Schlimm«, sagte Lizzy, als sie das Glas auf den Tisch stellte.
»Wie?«
»Der Tote da!«, rief sie mit kratziger Stimme. »Da kann man ja nicht hinschauen.«
»Sollst du auch nicht.«
»Dass dir das Spaß macht.«
Er hob die Schultern. Es war das letzte Bild auf dem Monitor. Das Glas stand bereit, und Ari leerte es bis zur Hälfte. Dabei schüttelte er sich.
»Widerlich.«
»Warum trinkst du dann?«
Er wischte über seine Lippen. »Das frage ich mich auch.« Er schaltete den Monitor ab. »In einigen Stunden geht es aufs Land. Freust du dich darauf?«
Lizzy verzog ihren herzförmigen Mund. »Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll. Ich habe das Land schon immer gehasst. In der Großstadt ist es besser.«
»Klar, so denke ich auch. Nur eine Nacht, und das ist die Halloween-Nacht.«
»Willst du das auch fotografieren?«
»Klar.«
Lizzy schüttelte den Kopf. »Etwa die Verkleideten?«
»Wenn Sie eine gute Maske tragen, schon.«
»Aber die sind nicht tot«, hielt sie ihm entgegen. »Du bist doch sonst nur auf Leichen spezialisiert.«
»Weiß man’s?«
Lizzy musste über die Worte erst mal nachdenken. Dabei schaute sie ihren Freund skeptisch an. Nach einer Weile holte sie pfeifend Atem. »Was soll das denn nun wieder heißen?«
Er grinste. »Der Tod ist eben überall. Sogar auf dem Land kann man ihn finden.«
»Klar. Tote Kühe und Schweine. Aber keine Menschen.«
»Aber das kann sich ändern.«
Lizzy wollte etwas sagen. Aber sie ließ es bleiben. Stattdessen fiel ihr ein, was sie bisher vergessen hatte. »Da hat jemand für dich angerufen, Ari.«
»Wer denn?«
»Eine Frau. Sie wollte wissen, ob du auch wirklich kommst.«
»Hat sie ihren Namen genannt?«
»Anna Bancroft.«
»Das ist gut.«
»Ihre Stimme klang recht alt.«
»Sie ist auch nicht mehr die Jüngste.« Er lachte. »Aber sie ist noch auf Zack. Du wirst sie erleben, Lizzy.«
»Dann wohnt sie in Hollow Field?«
»Ja, und dort wollen wir hin.«
Lizzy trat zur Seite. Ihr war nicht mehr wohl zumute. Etwas störte sie gewaltig, aber sie konnte nicht sagen, was es war. Bisher hatte sie noch nie Angst vor einem Trip mit ihrem Partner gehabt. Nun aber hatte sie ein verdammt unangenehmes Gefühl.
Sie setzte sich auf die Bettkante. Das Glas mit dem Mixgetränk nahm sie von dem kleinen Tisch daneben. Sie trank einen Schluck und blieb auch sitzen, als ihr Freund kam.
»He, was ist los?«
Lizzy hob die nackten Schultern und ärgerte sich zugleich über ihre Gänsehaut. »Ich kann es dir nicht so genau sagen, aber ich habe ein verdammt blödes Gefühl.«
»Warum?«
»Wegen morgen.«
Ari Ariston musste lachen. »Das verstehe ich nicht. So eine Landpartie kann toll sein.«
»Ja, im Sommer.«
Er schlug ihr auf die Schulter. »Und jetzt hast du Angst vor dem November und dem Nebel?«
»Nicht davor, sondern vor dem, was sich dahinter verbirgt.«
Ari atmete schnell ein.
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