1441 - Der Seelenfluss
zugleich in die Höhe. Aber dort gab es nur die Balken und die schräge Decke.
»Ich spinne doch nicht«, flüsterte mein Freund.
»Richtig.«
»Was hörst du genau?«
Einen Moment lauschte ich. Dann erfolgte die Antwort. »Wenn du mich so fragst, nichts.«
»Eben.«
An einen Rückzug dachten wir trotzdem nicht. Suko deutete zuerst dorthin, wo es unter dem Dach besonders dunkel war. Ich erinnerte mich, dass er schon zuvor in diese Richtung geleuchtet hatte, war dann aber von den Stimmen abgelenkt worden.
Eine Frage stellte ich nicht. Ich wartete darauf, dass sich etwas aus dem Dunkel hervorschälte.
Genau das trat ein!
Suko war nur zwei Schritte von mir weggegangen, als der senkrecht stehende Balken in das helle Licht der Lampe geriet.
Wir hielten beide den Atem an, weil wir damit nicht gerechnet hatten.
Das Licht traf eine junge Frau, die an den Balken gefesselt worden war…
***
Die Fesseln hatten sie zwar gehalten, trotzdem war sie nach vorn gesackt und hing dort in einer Kippstellung, die bestimmt nicht bequem sein konnte.
Für einige Augenblicke waren wir beide sprachlos. Ich konnte mir sogar vorstellen, dass die Frau tot war, und glaubte, dass Suko den gleichen Gedanke hatte.
Das Gesicht der Frau konnten wir nicht erkennen, weil der Kopf ebenfalls nach vorn gesunken war. Wir sahen nur, dass sie halblanges dunkles Haar hatte und ein schlichtes, irgendwie farbloses Kleid trug, das in der Taille von einem Gürtel umspannt wurde.
Die erste Überraschung verging sehr schnell. Was wir sahen, war zu eindeutig. Hier hatte jemand einen Menschen hinterlassen, der sich nicht wehren konnte. Und dieser Mensch sah aus wie eine Opfergabe. Egal für wen auch immer sie an den Balken gebunden war.
Suko stand der Gefesselten näher. Er erreichte sie vor mir, blieb dann für einen Moment stehen, legte die Kuppen der ausgestreckten Finger unter das Kinn und hob so den Kopf an.
Ich gab ihm mit meinem Lampenlicht Schützenhilfe, ohne dabei direkt in das Gesicht der Gefesselten zu strahlen. Da sie sich bisher noch nicht bewegt hatte, konnte auch keiner von uns sagen, ob sie nun tot war oder nicht.
Suko würde das zuerst feststellen. Mit seinem Körper nahm er mir die Sicht auf die Gefesselte. Er untersuchte sie genauer, tastete nach Herz- und Pulsschlag und drehte sich dann zu mir um.
»Sie lebt.«
»Super.«
»Aber es geht ihr nicht gut. Wir müssen sie von hier wegschaffen.«
Er bewegte sich zur Seite, sodass auch ich das Gesicht sah.
Es war eine Chinesin. Meiner Ansicht nach noch recht jung. In ihrem Zustand wirkte sie wie eine blasse Puppe. Selbst auf den Wangen zeichnete sich keine Röte ab.
Suko hielt sie aufrecht und hörte meine Frage: »Kennst du sie?«
»Nein.« Er hob die Schultern. »Aber was heißt das schon? Wenn du nicht tagtäglich mit Chinesen zu tun hast, verliert dein Blick oft die Schärfe für gewisse Details.«
»Das stimmt wohl.«
»Halte sie mal fest, John. Ich schneide sie los.«
»Okay.«
Die junge Frau war nicht schwer. Fast hatte ich den Eindruck, ein Kind abzustützen. Die Hände waren auf dem Rücken und an der hinteren Seite des Pfahls gefesselt worden. Zum Glück hatte sie mit den Füßen auf dem Boden gestanden. Trotzdem war die Haltung verdammt schlimm gewesen.
Sekunden später nicht mehr. Da hatte Suko die Stricke durchtrennt. Die Bewusstlose fiel mir in die Arme. Ich hielt sie fest wie ein wertvolles Gut. Sie war wirklich leicht. Unter dem Stoff spürte ich kaum Fleisch. Dafür mehr Knochen.
Ihr Puppengesicht lag auf meiner linken Schulter. Da ich sehr ruhig stand, bekam ich mit, dass sie atmete, und das wiederum beruhigte mich etwas.
»Leg sie auf den Boden, John. Ich will versuchen, ob ich sie nicht zurück ins Bewusstsein holen kann.«
Erst war ich dagegen. Dann jedoch dachte ich daran, dass uns der Schrecken bisher nicht begegnet war und Paul wohl übertrieben hatte. Deshalb kam ich Sukos Wunsch nach und legte die junge Frau auf den Rücken.
Unser Licht reichte aus, um sie deutlich zu erkennen. Sie war wirklich mit einer Puppe zu vergleichen. Die Haut schien aus Porzellan zu bestehen. Sie war so glatt. Nicht eine einzige Falte fiel mir auf. Das natürliche Rot der Lippen war ebenfalls verschwunden, und so sahen sie aus wie blass gemalt.
»Okay, John, ich…«
Weiter sprach Suko nicht. Zugleich hatten wir die geheimnisvollen Laute gehört. Ohne Vorwarnung waren sie da. Ein Zischeln, Wimmern und Flüstern umgab uns. Wenn es Worte waren, dann entstammten sie
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