1446 - Der Eis-Schamane
viel am Hut hatte. Aber das ist ja bei vielen Personen der Fall. Nur entwickelte sich Elias in eine noch andere Richtung. Aus dem Einzelgänger wurde ein Eremit.«
»Ein Einsiedler?«
»Ja.«
»Wie das?«
Mike Todd lächelte schwach. »Er verschwand aus der Stadt. Er war weg und ging in die Wälder, wie man so schön sagt.«
»Aber die gibt es hier doch so gut wie nicht.«
»Das weiß ich auch, Carlotta. Der Mann hat trotzdem ein Versteck gefunden. Es war nicht der Wald, sondern eine Höhle, in der er sein neues Zuhause fand.«
»War er denn glücklich?«
Der Förster überlegte recht lange. »Genau kann ich das nicht sagen«, gab er zu. »Ich habe mit ihm zweimal gesprochen. Zwischen diesen beiden Treffen lag einige Zeit, und mir fiel schon auf, dass er sich verändert hatte.«
»Inwiefern denn?«
»Tja, ich hatte das Gefühl, dass bei ihm das Menschliche immer mehr verloren gegangen war. Er mochte die Menschen nicht mehr. Er fühlte sich immer stärker zu den Tieren hingezogen und auch zu den Pflanzen. Er hat mir erzählt, dass er die Natur erst jetzt richtig begreifen kann, und er ging noch einen Schritt weiter. Er wollte in sie eindringen. Er wollte ein Teil von ihr werden, und er hat davon gesprochen, dass er jemanden kennen gelernt hat, der viele Kräfte in sich vereinte.«
»Wer war das denn?«
»Ha.« Der Förster lachte kurz auf. »Das habe ich ihn auch gefragt, aber keine genaue Antwort erhalten. Er sprach von einer mächtigen Kraft, von einem Hüter über die Natur, der sich bei ihm gemeldet hatte. Und er sagte mir noch, dass die Unterschiede zwischen Mensch und Tier gar nicht so groß sind. Das meinte er nicht genetisch, sondern anders. Aber das hat er mir nicht genauer erklärt.«
Das Sprechen hatte den Förster angestrengt. Carlotta sah es ihm an. Auf seiner Stirn schimmerte der Schweiß, und wenn er Luft holte, dann nur durch den offenen Mund.
»Dann muss es wohl jemanden geben, der die Natur leitet. Oder irre ich mich da?«
»Nach seiner Ansicht nicht. Elias war stets allein, er wurde noch einsamer und schien sein Glück gefunden zu haben, als er die Macht oder Kraft kennen lernte, von der er so geschwärmt hat. Etwas anderes kann ich dir auch nicht sagen.«
»Verstehe.« Das Vogelmädchen nickte. »Haben Sie sich keine weiteren Gedanken darüber gemacht?«
»Schon.«
»Und was ist dabei herausgekommen?«
»Nichts Konkretes. Ich hatte bei Elias den Eindruck, dass er nicht nur ein Einsiedler war, er hat sich auch ein anderes Image zugelegt. Er sah sich als Schamane an. Ich habe es erlebt. Ich hörte ihn singen und Beschwörungen rufen. Es war praktisch der Ruf, dem ich folgte, als ich ihn dann in seiner Hütte entdeckte.«
»Das ist allerdings seltsam.«
»Stimmt.«
»Ein Mensch wird zum Schamanen. Zu einer Person, die voll und ganz in der Natur aufgeht. Und sich dann, wenn das geschehen ist, noch verwandelt. Das ist schon mehr als ungewöhnlich. Es ist sogar unerklärlich, sollte man meinen.« Carlottas Lippen zeigten ein feines Lächeln. »Aber es ist nicht unmöglich.«
»Wieso?«
»Elias hat es geschafft, die Grenzen zwischen Mensch und Tier zu verwischen.«
»Bitte?«, flüsterte der Förster.
»Er ist eben beides. Er ist ein Mensch und auch ein Tier. In diesem Fall ein Vogel.«
Der Förster sah aus, als wollte er lachen, aber das blieb ihm im Hals stecken. Da Carlotta ihn in Ruhe ließ, konnte er nachdenken und sprach sein Fazit dann auch aus.
»Es bedeutet, dass Mensch und Tier zusammen gekommen sind und eine Symbiose bilden.«
»So ähnlich.«
»Und wie kann das passieren?«
»Durch Magie!«
Jetzt war ein Begriff gefallen, der Carlotta schon länger durch den Kopf gegangen war. Sie wartete auf die Reaktion des Försters, die allerdings nicht erfolgte, denn der Mann konnte es einfach nicht begreifen. Zur Magie hatte er keinen Draht.
»Sie glauben mir nicht?«
»Oh, ich habe damit meine Probleme.«
»Kann ich mir vorstellen.«
»Aber du glaubst daran?«
Als Antwort nickte sie einige Male langsam. Reden wollte sie nicht.
Der Förster dachte nach. Ihm war anzusehen, dass sein Weltbild Risse bekommen hatte. Er konnte die Dinge, die das Mädchen ausgesprochen hatte, nicht nachvollziehen. Seine Lippen zuckten, aber er brachte es nicht fertig, etwas zu sagen.
»Sie glauben mir nicht, wie?«
Er zuckte mit den Schultern. »Du musst mich verstehen, Carlotta, ich habe damit nie in meinem Leben zu tun gehabt. Ich bin zwar kein Naturwissenschaftler, aber ich habe immer
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