1446 - Der Eis-Schamane
es auch nicht. Wir alle sind nur Menschen, und die machen Fehler.«
»Klar. Würde es dich denn beruhigen, wenn ich bei dir zu Hause anrufe und mit Carlotta spreche?«
»Das wollte ich soeben vorschlagen. Vielleicht haben wir inzwischen eine bessere Verbindung, da wir näher an der Stadt sind. Auf jeden Fall solltest du es versuchen.«
Ich wollte mein Handy herausholen, doch dagegen hatte Maxime etwas. »Nimm meins, da ist die Nummer einprogrammiert.«
»Okay.«
Wenig später hatte sie es mir in die Hand gedrückt. Die Tierärztin konnte sich wieder auf die Fahrt konzentrieren, und die lief nicht eben glatt ab. Immer wieder fuhren wir über Bodenwellen, die uns durchschaukelten. Gegenverkehr herrschte nicht. Die verschneite und teilweise vereiste Straße gehörte uns.
Ich läutete im Haus der Tierärztin durch und wartete gespannt darauf, dass abgehoben wurde.
Zunächst passierte nichts. Mein Gesicht wurde länger, ein Zeichen der Enttäuschung.
Bis ich dann die schwach klingende Stimme hörte.
»Ja, wer ist da?«
»Ich, John Sinclair.«
»Du, John!«, rief Carlotta.
»Ja, Maxine und ich befinden uns auf der Rückfahrt.« Dann kam ich auf meinen Verdacht zu sprechen, der mich schon bei ihren ersten Worten befallen hatte.
»Was ist mit dir los, Carlotta?«
Ich hörte ihr scharfes Atmen. Oder war es ein Schluchzen? Für mich nicht so genau herauszuhören, doch die Antwort ließ eine Gänsehaut über meinen Rücken laufen.
»Die Hölle, John. Ich hatte Besuch von einem Monster. Halb Mensch und halb Vogel. Komm so schnell wie möglich. Ich kann nicht viel mehr sagen, aber ich lebe, und ich muss mich um einen Verletzten kümmern. Es ist Mike Todd, der Förster. Er wollte Maxine besuchen, aber dann war plötzlich die Bestie da und hat ihn angegriffen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie grausam sie war, aber ich habe sie vertrieben. Und ich weiß nicht, ob sie zurückkommen wird.«
Ich wollte alles wissen und fragte deshalb: »Was genau ist passiert, Carlotta?«
»Später. Ich kann jetzt nicht. Das musst du verstehen. Der Förster hat Wunden im Gesicht und…«
»Okay, schon verstanden.«
»Und wann könnt ihr hier sein?«
»Wir tun unser Bestes. Gib auf dich Acht.«
»Das mache ich.«
Die Verbindung war weg.
Ein Seitenblick der Tierärztin traf mich.
»Ich sehe dir an, dass du nicht eben gute Nachrichten hast. Rede, John, ich fahre weiter.«
»Es sieht auf der einen Seite gut aus, auf der anderen nicht.«
»Für wen sieht es denn nicht gut aus?«
»Mike Todd.«
»Mein Gott…«
Ich ließ Maxine Wells nicht länger im Unklaren und berichtete ihr, was ich wusste…
***
Gern, sehr gern hätte Carlotta weiterhin mit John Sinclair gesprochen und ihm alles erzählt, aber im Wohnraum lag jemand, der ihre Hilfe brauchte.
Nach dem Telefongespräch war sie in die Küche gegangen. Dort hatte sie eine Schüssel genommen, in die sie heißes Wasser hineinlaufen ließ. Mehr konnte sie für den Förster vorerst nicht tun. Mit dem warmen Wasser wollte sie zumindest sein Gesicht säubern.
Mike Todd war nicht bewusstlos geworden. Carlotta hatte sogar den Eindruck gehabt, als hätte er unbedingt mit ihr sprechen wollen.
Er hatte nicht gesehen, wie sie in Wahrheit aussah. Die Flügel waren ihm nicht aufgefallen. Bevor Carlotta den Raum verließ und zu ihm ging, holte sie einen Umhang, den sie sich um die Schultern legte.
Ihre Ziehmutter würde sicherlich nichts dagegen haben, dass sie Mike Todd im Wohnzimmer gebettet hatte. Die Couch dort war groß genug, dort konnte er lang gestreckt liegen.
Er lag auf dem Rücken. Unter seinen Kopf hatte Carlotta ihm ein Kissen geschoben. Da der Tisch in der Nähe stand, konnte sie dort die Schüssel mit dem warmen Wasser abstellen.
Große Erklärungen gab sie nicht ab. Sie musste sich auch keine Fragen anhören, denn der Förster wusste genau, das sie es gut mit ihm meinte. Sie tauchte den sauberen Handwaschlappen ins heiße Wasser, und danach kümmerte sich Carlotta um die Wunden.
Sie fand sie nicht nur am Kopf. Auch an der Brust war der Mann erwischt worden.
Die dicke Jacke hatte sie ihm abgestreift. Der Pullover darunter war durch die Schnabelhiebe zerfetzt. Blut war aus den Wunden getreten. Mit einer Schere hatte das Vogelmädchen die Umgebung der Wunden von störenden Kleiderresten befreit.
Der Förster zuckte mehrmals zusammen, wenn sie zu nahe an die Wunden herankam. Sie entschuldigte sich mit leiser Stimme, machte aber weiter. Zwischendurch sprach sie
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