15 Gruselstories
sich in Satyre und Faune; sie waren dann halb Tier, halb Mensch.«
»Nun, ich kenne solche Mythen, Lepolis. In der griechischen Mythologie wimmelt es doch nur so von Satyren und allen anderen Sorten von Waldgöttern sowie Männern mit Ziegenköpfen. Ich verstehe aber immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen, Lepolis.«
»Diese Kreaturen haben göttliches Blut in ihren Adern, Mr. Talquist. Und darum sind sie unsterblich.« Talquists Augen weiteten sich.
»Was? Wollen Sie damit vielleicht sagen, daß sie befürchten, der Wald und der Altar könnten von irgendwelchen Fabelwesen bewacht werden?«
»Nein, nein, so etwas Kindisches glaubt hier keiner«, versicherte der alte Mann. Talquist fragte sich, ob er das ehrlich meinte.
»Was macht Ihnen dann Sorgen, Lepolis?«
»Nur das eine: Als die Menschen vor unserer Zeit auf dem Altar ihre Opfer darbrachten, erhielten sie eine Gegengabe. Verstehen Sie, was ich meine? Sie gaben Blut und erhielten dafür von den Göttern Geschenke. Schreckliche Geschenke, Mr. Talquist.«
Talquist starrte den alten Mann an. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich kann es schwer in die richtigen Worte fassen. Die Anbetenden wollten etwas von ihren Göttern. Sie wollten genauso unsterblich wie die Faune und Satyre und Waldnymphen werden. Wenn die Götter hin und wieder milde gestimmt waren, hinterließen sie Amulette auf den Altären. Man sagt, daß die, die die Amulette tragen, verändert werden.«
Talquist schaute den Alten mit leichtem Unbehagen an. »Wollen Sie mir erzählen, daß Sie solchen Unsinn glauben?« fragte er.
»Nein – nicht direkt«, antwortete Papa Lepolis ruhig.
»Dann führen Sie mich zu dem Altar«, bat der junge Archäologe bestimmt.
Der alte Mann vermied es, Roger Talquist in die Augen zu schauen.
»Ich zeige diese Grotte niemandem«, murmelte er. »Das ist unser Familiengeheimnis. Es ist für Sie besser, gewisse Dinge nicht zu wissen. Ich war ein Narr, daß ich Ihnen den Vorschlag gemacht habe.«
Talquist baute wie in Gedanken versunken einen kleinen Haufen Drachmen auf dem Tisch auf. Lepolis schaute schweigend auf die Münzen und schurrte mit den Füßen. Dann verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln.
»Ich bin ein alter Mann, Mr. Talquist. Ein alter, müder Mann. Mich strengt jeder Fußmarsch an … aber wenn Sie so scharf darauf sind, werde ich Sie zu dem Altar im Wald führen.«
Talquist lächelte geduldig. »Morgen?«
»Morgen.«
Es war ein seltsames Paar, das am nächsten Tag die Waldwege entlangging. Der große, bärtige, in Lumpen gehüllte Papa Lepolis, der den gepflegt gekleideten Roger Talquist durch die langsam herabsinkende Dämmerung führte.
Je weiter sie fortschritten, desto dichter rückten die Bäume und Büsche zusammen; und schließlich wurde das Dickicht so undurchdringlich, daß sich die letzten Sonnenstrahlen nur noch durch vereinzelte Lücken stehlen konnten. Zuerst war Talquist dem alten Mann über lichte Waldwege gefolgt, wo die Vögel fröhlich von den Ästen zwitscherten. Aber inzwischen war das ungleiche Paar längst in einer grünen Dunkelheit untergetaucht und bahnte sich einen Weg durch das Dickicht. Hier gab es kein Leben mehr, sondern vielmehr eine lebendige Stille. Es war die Stille einer fernen Vergangenheit.
Sie befanden sich in dem tiefen Wald eines früheren Griechenlands, der dreitausend Jahre lang nicht gestört worden war. Hier konnten die Zentauren hinter dem Vorhang der Dunkelheit paradieren und die Nymphen über den von Wolken bedeckten Gipfeln zum Klang von verborgenen Lauten tanzen. So stellte es sich jedenfalls Talquist vor. Er dachte träumerisch an die Mythen, die ihm der Alte erzählt hatte. Hier in diese Gegend paßten sie und
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