15 Gruselstories
poetischen Kritzeleien würde er nie auf einen grünen Zweig kommen. Das ging in dem Stil weiter, bis Bertrand der Kragen platzte. Aber er konnte machen, was er wollte, es gelang ihm nicht, den alten Moralprediger zu beleidigen. Er konnte sich nicht einmal mit ihm streiten. Der ungehobelte Klotz war zu dumm, um seine bissigen Bemerkungen zu verstehen.
Der Oberst folgte Bertrand auf Schritt und Tritt. Wenn sie zum Essen gingen, hielt er es für selbstverständlich, daß Bertrand für ihn zahlte. Er hatte zwar in einem drittklassigen Hotel in Bertrands Nähe ›Quartier bezogen‹, aber er verbrachte die erste Nacht in Bertrands Wohnung und redete ununterbrochen auf unseren Poeten ein. Er war fest davon überzeugt, daß der ›liebe Junge‹ nur auf seine Weisheiten gewartet hatte. Nach diesem nächtlichen Gespräch gab es Bertrand auf. Es hatte keinen Sinn, Bertroux mit Argumenten zu kommen – der begriff überhaupt nicht, was der Jüngere meinte.
Bertrand war am nächsten Tag gerade im Begriff, sich auf den Weg zum Wachsfigurenkabinett zu machen, als der Oberst wieder aufkreuzte. Bertrand suchte nach Ausflüchten, aber Bertroux ließ sich durch nichts davon abhalten, Bertrand zu begleiten.
Als sie das Museum betraten, überkam Bertrand wieder jene geheimnisvolle Erwartung, die er sich nicht erklären konnte, aber nach der er sich sehnte. Er nahm die idiotischen Kommentare des Oberst über die dargestellten Verbrechen überhaupt nicht zur Kenntnis. Er verfiel, wie immer, in eine Art Trancezustand.
Dann kamen sie zu ihr . Bertrand blieb wie angewurzelt vor ihr stehen und sagte keinen Ton. Dafür war die Sprache seiner Augen um so beredter. Ihr Blick schien noch spöttischer als sonst auf ihm zu ruhen. Die Minuten, während der sie sich schweigend mit den Augen duellierten, wurden zur Ewigkeit.
Irgendwann kehrte Bertrand in die Wirklichkeit zurück. Er erwachte langsam aus einem Traum, der ihn gefesselt und verzaubert hatte, und schaute sich blinzelnd um. Als sein Blick auf den Oberst fiel, riß er erstaunt die Augen auf.
Bertroux stand noch immer neben ihm und starrte in Gedanken versunken auf Salome. Bertrand war über den gebannten Blick des anderen verblüfft. Der Oberst hatte einen fremden, irgendwie fast jugendlich wirkenden Gesichtsausdruck. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß er von der weiblichen Wachsfigur fasziniert war – genauso fasziniert wie Bertrand!
Der Oberst? Das war unmöglich! Das war absurd! Dieses robuste Rauhbein stand doch mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit! Aber trotzdem fühlte Bertrand, daß er sich nicht täuschte. Der Oberst war ihr auch verfallen!
Bertrands erste Reaktion war, laut zu lachen. Aber als er einen zweiten Blick in das alte verzückte Gesicht warf, war er eher den Tränen nahe. Er verstand. Von der Frau ging etwas aus, das im Herzen jedes Mannes, gleichgültig ob jung oder alt, Träume und geheime Sehnsüchte und Wünsche erweckte. Sie war so fern, so unerreichbar und doch so fatal begehrenswert.
Bertrand warf wieder einen Blick auf sie. Alles war wie immer: ihre vorgetäuschte Zerbrechlichkeit, ihre verlogene Zärtlichkeit und ihre unnachahmliche Grazie, mit der sie dastand und in ihren ausgestreckten Händen den scheußlichen abgeschlagenen Kopf hielt … Bertrand hielt den Atem an. Etwas war nicht wie immer. Der scheußliche Kopf – er war anders als sonst! Es war nicht das schwarzhaarige Haupt mit den starrenden blauen Augen, das er von seinen Besuchen her kannte. Was hatte das zu bedeuten?
Eine Hand berührte seine Schulter. Er fuhr herum. Hinter ihm stand der kleine grauhaarige Besitzer des Wachsfigurenkabinetts und schaute ihn erwartungsvoll an.
»Sie haben es schon
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