15 Gruselstories
alt.
Dann riß er die Fenster auf, damit auch der letzte schwache Hauch des Weihrauches abziehen sollte. Irgend jemand könnte möglicherweise den Geruch erkennen. O ja, er ging mit Riesenschritten auf die Sechzig zu – oder die Sechzig auf ihn, wie? Es wäre vielleicht keine schlechte Idee, sich einmal mit der Affäre von diesem Burschen – wie hieß er doch gleich? – ah ja, Faust zu beschäftigen. Man konnte nie genug lernen. Vielleicht sollte er heute abend, nach dem Familienessen, eine kleine Sitzung abhalten und herausfinden –
Es läutete.
Mr. Cavendish warf die Fenster zu, schloß seine Manschetten und ging gemächlich auf die Tür zu. Er konnte gerade noch das Gesicht des ›lieben alten Onkel Ronald‹ aufsetzen, ehe sie an ihm vorbei in den Salon stürmten.
Allen vorweg die fette Clara mit ihrem einfältigen Lächeln. Ihr folgte der verhutzelte kleine Edwin, dann kamen Harry mit seinem lächerlichen Backenbart und Dell mit ihren verfärbten Haaren. Als letzter erschien ein räudiger Straßenköter – das war natürlich Jasper. Er schnaufte und watschelte um Mr. Cavendish herum, wobei er eine ganze Salve abgedroschener Phrasen von Stapel ließ: »Hallo, Ronald … Du siehst prächtig aus, Ronald … Wie in alten Zeiten, Ronald … Schön, daß die ganze Familie mal wieder unter einem Dach versammelt ist, Ronald …«
Schließlich saßen sie alle, bedienten sich mit Zigaretten und Zigarren und schlürften Kognak aus kleinen Gläsern. Ronald Cavendish schaute auf die ganze reizende Gesellschaft und brachte sogar ein Lächeln zustande, als Edwin sein Glas hob und murmelte: »Auf deine Gesundheit.«
Dann schlug er vor: »Wollen wir hinüber zum Essen gehen? Ich habe alles vorbereitet.«
Bei der Erwähnung des Wortes ›Essen‹ stand Jasper schon auf den Beinen. Ein gieriger Typ. Aber waren sie nicht alle gierig? fragte sich Mr. Cavendish nachdenklich. Nehmen wir nur einmal Clara. »Was hast du für ein wunderschönes Silberservice, Onkel Ronald.« Das war Clara. Ihre stechenden Augen, die aus den Fettpolstern lugten, wanderten flink von einem Gegenstand zum anderen. Man konnte ihr ansehen, wie sie im Geist die Werte zusammenrechnete.
Edwin, ihr Mann, schnupperte an dem Kognak. »Napoleon oder Armagnac, Onkel Ronald?« fragte er. Als ob ich denen Napoleon vorsetzen würde, dachte Mr. Cavendish belustigt. Edwin, der den Unterschied nicht kannte, war begierig darauf, ihn kennenzulernen. Er wollte kein Geld, er wollte Luxus.
Harry pfiff anerkennend durch die Zähne. »Junge, Junge, du lebst nicht schlecht, Onkel«, sagte er beim Anblick der üppigen Tafel. Sein Mund verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Du hast wohl auf das richtige Pferd gesetzt, wie?« Das war Harry, dessen Welt der Rennplatz war. Er jagte dem Glück nach.
Und Dell. Mr. Cavendish betrachtete ihre eiskalten Augen, in denen sich jedoch gewiß ein leidenschaftlicher Funke entzünden konnte, und ihre auf jugendlich getrimmte Figur. Was sie wollte, wußte er genau. Und sie verschaffte es sich wahrscheinlich auch immer, wenn Harry auf dem Rennplatz war. In zehn Jahren würde sie ihr Geld bestimmt für Gigolos – oder wie man diese Herren heutzutage nennen mochte – ausgeben.
Heutzutage. Es war Jasper, der das Wort gerade ausgesprochen hatte, und Mr. Cavendish zwang sich zuzuhören.
»Heutzutage setzt man sich selten zu einem Essen wie diesem zusammen.« Schnaufen. »Ich weiß gar nicht, wie du das alles bewerkstelligst, Ronald.« Schnaufen. »Seit sieben Jahren rackerst du dich nun schon in dieser großen alten Scheune ab. Du hast keine Bediensteten und keinen, der nach dir sieht. Ich wünschte –« Schnaufen »– ich wünschte, du würdest dich
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