15 Gruselstories
für das letzte Essen eine Expertin auf diesem Gebiet herbeizurufen.
Mr. Cavendish schlich zur Küche, öffnete die Tür einen Spalt und flüsterte in die Dunkelheit: »Vielen Dank, Lucrezia.«
Die süße Puppe
Irma sah nicht wie eine Hexe aus.
Sie hatte ein schmales, ebenmäßiges Gesicht, eine zarte Pfirsichhaut, blaue Augen und flachsblonde, glänzende Haare. Außerdem war Irma erst acht Jahre alt.
»Warum muß er sie nur immer so quälen?« schluchzte Miss Pall. »Weil er sie eine ›kleine Hexe‹ nennt, hat sich dieser Gedanke bei ihr festgesetzt und ist allmählich zur fixen Idee geworden.«
Sam Steever ließ sich schwer in seinen quietschenden Drehstuhl zurückfallen und faltete seine wulstigen Hände über dem dicken Bauch. Obwohl der Rechtsanwalt keine Miene verzog, fühlte er sich im höchsten Maße unbehaglich.
Frauen wie Miss Pall sollten niemals weinen, dachte er. Ihre Brillen beschlagen sich dann, ihre spitzen Nasen zucken, ihre faltigen Augenlider röten sich, ihre strohigen Haare geraten in Unordnung.
»Bitte, beruhigen Sie sich doch«, sagte Sam Steever sanft. »Vielleicht könnten wir uns über die ganze Angelegenheit einmal vernünftig unterhalten …«
»Da gibt es nichts zu unterhalten.« Miss Pall schnüffelte verdächtig. »Ich werde nie wieder zurückgehen! Ich kann das nicht ertragen. Und es gibt nichts, was ich dagegen unternehmen könnte. Der Mann ist Ihr Bruder, und sie ist das Kind Ihres Bruders. Ich bin nicht verantwortlich. Ich habe wirklich alles versucht …«
»Sicher haben Sie alles versucht.« Sam Steever lächelte so milde, als wäre Miss Pall die Vorsitzende der Geschworenen. »Ich glaube Ihnen das gern. Aber ich kann trotzdem nicht verstehen, warum Sie sich so aufregen, meine Dame.«
Miss Pall nahm die Brille ab und betupfte ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch. Dann warf sie den durchnäßten Klumpen von Taschentuch in ihre Handtasche, ließ das Schloß zuschnappen, rückte ihre Brille wieder energisch zurecht und saß steif aufgerichtet da.
»Also gut, Mr. Steever«, sagte sie. »Ich werde mein Bestes tun, um Ihnen genau zu erklären, warum ich den Posten bei Ihrem Bruder aufgebe.«
Sie konnte ein verspätetes Schnüffeln nicht zurückhalten. Dann fuhr sie fort:
»Wie Sie wissen, bin ich auf Grund eines Stellenangebotes als Haushälterin vor zwei Jahren zu John Steever gekommen. Ich war zuerst etwas verstört, als ich feststellte, daß ich hauptsächlich als Gouvernante für ein sechsjähriges mutterloses Kind tätig sein sollte. Ich wußte nichts über den Umgang mit Kindern.«
Sam Steever nickte. »John hatte in den ersten sechs Jahren eine Kinderschwester … Sie wissen ja, daß die Mutter bei Irmas Geburt gestorben ist.«
»Natürlich weiß ich das«, sagte Miss Pall steif. Dann fuhr sie sanfter fort: »Und natürlich schließt man ein einsames, vernachlässigtes kleines Mädchen sofort in sein Herz. Und sie war schrecklich einsam, Mr. Steever. Sie hätten sie sehen sollen, wie sie sich in den Ecken und Winkeln des großen, häßlichen alten Hauses herumdrückte, immer allein war und sich zu Tode langweilte.«
»Ich habe sie gesehen«, warf Sam Steever hastig ein, in der Hoffnung, damit einem neuen Ausbruch zuvorzukommen. »Und ich weiß genau, was Sie alles für Irma getan haben. Mein Bruder neigt dazu, gedankenlos zu sein, und ich weiß, daß er oft auch reichlich egoistisch ist. Er merkt es selber gar nicht.«
»Er ist grausam«, stieß Miss Pall mit plötzlicher Heftigkeit hervor. »Grausam und schlecht. Auch wenn er Ihr Bruder ist, muß ich sagen, daß er der schlechteste Vater ist, den man sich vorstellen kann. Als ich dort hinkam, waren die kleinen Arme blau und grün geschlagen. Er benutzte immer
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