15 Gruselstories
einen Ledergürtel, wenn er auf sie losging …«
»Ich weiß, ich weiß. Manchmal glaubte ich, daß John nie über den Schock hinwegkommen würde, den er beim Tode seiner Frau erlitten hat. Deshalb war ich auch so froh, als Sie kamen, meine liebe Miss Pall. Ich hoffte, daß sich durch Ihren günstigen Einfluß alles ändern würde.«
»Ich habe alles versucht«, wimmerte Miss Pall. »Sie wissen, daß ich alles versucht habe. Ich habe in diesen zwei Jahren niemals meine Hand gegen das Kind erhoben, obwohl mir Ihr Bruder so oft befohlen hat, Irma zu bestrafen. ›Verdreschen Sie die kleine Hexe‹, sagte er immer, ›sie braucht weiter nichts als eine anständige Tracht Prügel.‹ Aber Irma versteckte sich bei seinen Worten hinter meinem Rücken und bat mich flüsternd um Schutz. Aber sie weinte nicht, Mr. Steever. Ich habe sie in den beiden Jahren nicht ein einziges Mal weinen sehen.«
Sam Steever fing an, sich ein wenig zu langweilen, und merkte, daß er gereizt wurde. Er wünschte, daß diese alte Henne endlich mit ihrer Geschichte fertig würde. Darum lächelte er honigsüß und fragte: »Alles schön und gut, liebe Miss Pall, aber was macht Ihnen denn eigentlich Kummer?«
Miss Pall fuhr unbeirrt fort:
»Als ich dort einzog, war alles in bester Ordnung. Wir kamen prächtig miteinander aus. Ich wollte Irma das Lesen beibringen, aber ich stellte zu meiner Verblüffung fest, daß sie es schon beherrschte. Ihr Bruder behauptete, er hätte es ihr nicht beigebracht; aber es steht fest, daß sie stundenlang zusammengerollt auf dem Sofa lag und ein Buch vor der Nase hatte. ›Sie ist genau wie sie‹, pflegte er mürrisch zu sagen. ›Typisch, daß diese unnatürliche kleine Hexe nicht mit den anderen Kindern spielt. Sie ist und bleibt eben eine Hexe.‹ In dem Stil redete er immer, Mr. Steever. Als wäre Irma so etwas wie ein – ein Ungeheuer. Dabei ist sie so süß und lieb und ruhig und hübsch!
Ist es vielleicht ein Wunder, daß sie aufs Lesen verfallen war? Ich war als kleines Mädchen ebenso, weil – aber das tut nichts zur Sache.
Trotzdem glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen, als ich eines Tages dazu kam, wie sie in die ›Encyclopedia Britannica‹ vertieft war. ›Was liest du denn da, Irma?‹ fragte ich sie. Sie zeigte es mir. Es war eine Abhandlung über Hexenkraft.
Sehen sie jetzt, welche krankhaften Vorstellungen Ihr Bruder in ihrem kleinen Kopf erweckt hat? Ich tat alles, was in meinen Kräften stand. Ich kaufte ihr Spielzeug – sie hatte nichts, absolut nichts, nicht einmal eine Puppe. Sie wußte gar nicht, was spielen ist. Ich versuchte sie mit den Kindern aus der Nachbarschaft zusammenzubringen; aber das hatte überhaupt keinen Zweck. Die Kinder verstanden Irma nicht, und sie wußte nichts mit den anderen Kindern anzufangen. Es gab immerzu Streit. Kinder können so grausam und so gedankenlos sein. Ihr Vater weigerte sich, sie in eine öffentliche Schule zu schicken. Ich sollte sie unterrichten –
Ich kaufte ihr dann eine Knetmasse zum Modellieren. Das gefiel ihr. Sie konnte Stunden damit zubringen, nichts weiter als Gesichter zu formen. Für ihre sechs Jahre entwickelte sie dabei ein beachtliches Talent.
Wir machten zusammen kleine Puppen, und ich nähte dann Kleider für sie.
Glauben Sie mir, Mr. Steever, das erste Jahr war ausgesprochen glücklich. Ganz besonders schön waren natürlich die Monate, als Ihr Bruder in Südamerika war. Aber als er dann in diesem Jahr zurückkam – du mein lieber Gott, ich bringe es kaum übers Herz, darüber zu sprechen!«
»Bitte«, sagte Sam Steever, »Sie müssen das verstehen. John ist alles andere als ein glücklicher Mensch. Der Verlust seiner Frau, der Rückgang seines Importgeschäftes und dann sein Trinken – aber was sage ich Ihnen da?
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