15 Gruselstories
Sie wissen das ja alles selber.«
»Ich weiß nur, daß er Irma haßt«, sagte Miss Pall heftig. »Er haßt sie so sehr, daß er wünscht, sie wäre schlecht, damit er immer einen Grund hätte, sie zu verprügeln. ›Wenn Sie die kleine Hexe nicht züchtigen, werde ich es tun‹, sagt er immer. Und dann nimmt er sie nach oben und schlägt mit seinem Ledergürtel auf sie ein. Sie müssen etwas unternehmen, Mr. Steever. Wenn Sie es nicht tun, werde ich ganz bestimmt zu den maßgebenden Behörden gehen!« Diese verrückte, alte Meckerziege ist imstande und tut das wirklich, dachte Sam, also muß man ihr noch mehr Honig ums Maul schmieren. »Aber was wird dann mit Irma?« fragte er, um an ihr rührseliges Herz zu appellieren.
Miss Pall seufzte. »Ich weiß nicht. Seit ihr Vater zurück ist, hat sie sich sehr verändert. Sie will nicht mehr mit mir spielen, ja sie schaut mich kaum noch an. Sie kann mich wahrscheinlich nicht mehr leiden, weil es mir nicht gelingt, sie vor ihrem Vater zu beschützen. Und außerdem – ist sie felsenfest davon überzeugt, daß sie eine Hexe ist.«
Dieses alte Weib ist verrückt, völlig verrückt. Sam Steever setzte sich aufrecht in seinen knarrenden Stuhl.
»Sie brauchen mich gar nicht so anzustarren, als ob ich den Verstand verloren hätte, Mr. Steever. Irma wird es Ihnen selbst sagen – wenn Sie sich je entschließen können, hinzufahren.«
Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Er versuchte ihn durch ein freundliches Nicken zu mildern.
»Irma verkündete eines Tages, wenn ihr Vater so gern möchte, daß sie eine Hexe wäre, dann würde sie eben ab sofort eine Hexe sein. Und sie würde weder mit mir noch irgendeinem anderen spielen, weil Hexen nicht spielen.
Bei der letzten Kirmes hat sie mich gebeten, ihr einen Besenstiel zu geben. Man könnte darüber lachen – wenn es nicht eher zum Weinen wäre. Es ist ein Jammer, wenn man tatenlos zusehen muß, wie dieses Kind langsam seinen gesunden Menschenverstand verliert.
Vor ein paar Wochen dachte ich, es könnte vielleicht doch noch alles gut werden. An einem Sonntag bat mich Irma, mit ihr in die Kirche zu gehen. ›Ich möchte bei einer Taufe zusehen‹, sagte sie. Man stelle sich vor: Ein achtjähriges Mädchen ist an dem Taufvorgang interessiert! Sie liest einfach zuviel. Das ist es!
Also schön, wir gingen zur Kirche. Sie war so süß und lieb, wie sie nur sein kann. Sie hatte ihr neues blaues Kleid an und umklammerte meine Hand. Ich war stolz auf sie, Mr. Steever, richtig stolz;.
Aber gleich nach dem Kirchgang zog sie sich wieder in ihr Schneckenhaus zurück. Entweder las sie ununterbrochen oder sie huschte in der Dämmerung durch den Garten und sprach mit sich selbst.
Vielleicht tat sie das, weil Ihr Bruder ihr das Kätzchen nicht schenken wollte, das sie sich so sehr wünschte. Als sie ihn bat, ihr eine schwarze Katze mitzubringen, fragte er, warum, und sie antwortete: ›Weil jede Hexe eine schwarze Katze hat.‹ Daraufhin nahm er Irma wieder mit nach oben.
Wie sollte ich ihn davon abhalten, Irma zu schlagen?
Das nächstemal verprügelte er sie, als das elektrische Licht versagte und wir die Kerzen nicht finden konnten. Er beschuldigte sie, daß sie die Kerzen gestohlen hätte. Man bedenke: Ein achtjähriges Kind des Kerzendiebstahls zu bezichtigen!
Das war der Anfang vom Ende. Denn als er heute seine Haarbürste nicht finden konnte …«
»Wollen Sie damit sagen, daß er das Kind auch mit der Haarbürste schlug?«
»Ja. Und sie gab zu, die Haarbürste entwendet zu haben. Sie sagte, sie hätte sie für ihre Puppe gebraucht.«
»Aber sagten Sie nicht vorhin, Irma hätte gar keine Puppen?«
»Sie hat sich selbst eine gemacht. Zumindest glaube ich, daß sie das getan hat – obwohl ich die Puppe nie zu Gesicht bekommen habe. Denn sie zeigte uns nichts mehr, und
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