15 Gruselstories
sie redete auch bei Tisch nicht mehr mit uns. Sie hatte sich so zurückgezogen, daß es einfach unmöglich geworden war, mit ihr umzugehen.
Aber ich weiß trotzdem, daß sie eine kleine Puppe hat – sie muß sie einfach selber gemacht haben, woher sollte sie sie sonst haben? –, weil sie sie manchmal unter dem Arm versteckt herumträgt. Sie redet mit der Puppe, und sie streichelt sie, aber sie will sie weder mir noch ihm zeigen. Und als er Irma heute nach der Haarbürste fragte, da sagte sie eben, daß sie sie für ihre Puppe gebraucht hätte.
Ihr Bruder bekam einen fürchterlichen Wutanfall – er hatte den ganzen Vormittag in seinem Zimmer getrunken, oh, denken Sie ja nicht, daß ich das nicht weiß –, aber Irma lächelte ihn nur an und sagte, daß sie die Bürste nicht mehr brauche und daß er sie jetzt wiederhaben könne. Sie verschwand in ihrem Zimmer, kam mit der Haarbürste zurück und reichte sie Ihrem Bruder. Ich konnte mit einem Blick feststellen, daß Irma die Bürste nicht im mindesten beschädigt hatte.
Aber kaum, daß Ihr Bruder die Haarbürste in der Hand hatte, schlug er damit heftig auf die Schultern der Kleinen ein. Dann verdrehte er ihren Arm und dann –«
Miss Pall sackte auf ihrem Stuhl zusammen und begann wieder wild zu schluchzen.
Als Sam Steever ihr beruhigend auf die Schulter klopfte, wirkte er wie ein Elefant, der einen verwundeten Kanarienvogel trösten will.
»Das ist alles, Mr. Steever«, brachte Miss Pall mühsam hervor. »Ich bin gleich zu Ihnen gekommen. Ich werde nicht einmal in das Haus gehen, um meine Sachen zu holen. Ich kann das einfach nicht mehr ertragen. Ich meine, die Art wie er sie schlägt und wie sie es hinnimmt. Sie weint nicht, sondern kichert und kichert und kichert. Ich glaube langsam wirklich, daß sie eine Hexe ist, daß er sie zu einer Hexe gemacht hat …«
Sam Steever langte nach dem Telefonhörer. Das Läuten hatte die wohltuende Stille, die nach Miss Palls eiligem Aufbruch eingetreten war, unterbrochen.
»Hallo – bist du es, Sam?«
Er erkannte die Stimme seines Bruders, der völlig betrunken sein mußte.
»Ja, John.«
»Ich schätze, daß das alte Klatschmaul auf der Stelle zu dir gerannt ist, um sich den Mund fusselig zu reden.«
»Wenn du Miss Pall meinst – ja, sie war eben hier.«
»Gib nichts auf ihr Geschwätz, Sam. Ich kann dir alles erklären.«
»Willst du, daß ich zu dir komme? Ich war schon monatelang nicht bei dir.«
»Tja – nur nicht heute. Ich habe mich für den späten Nachmittag beim Arzt angemeldet.«
»Ist irgend etwas nicht in Ordnung mit dir?«
»Ich habe Schmerzen im Arm. Wahrscheinlich Rheumatismus oder so etwas. Aber ich werde dich morgen anrufen, damit wir den Unsinn aus der Welt schaffen.«
»Schön.«
Aber John Steever rief am nächsten Tag nicht an. Sam wartete bis zum späten Abend, dann wählte er Johns Nummer.
Zu seiner Überraschung meldete sich Irma am anderen Ende. Ihre dünne, piepsende kleine Stimme klang leise in seinen Ohren.
»Vati ist oben und schläft. Er ist krank.«
»Dann wollen wir ihn auch nicht stören. Was ist es denn – sein Arm?«
»Nein, jetzt ist es sein Rücken. Er muß nachher noch einmal zum Arzt.«
»Dann sage ihm, wenn er aufwacht, daß ich morgen wieder anrufe. Ist sonst alles in Ordnung, Irma? Ich meine, vermißt du nicht Miss Pall?«
»O nein. Ich bin froh, daß sie fort ist. Sie ist schrecklich dumm.«
»Aha – nun ja – ich verstehe. – Aber du rufst mich an, wenn irgend etwas los ist, ja? Und ich hoffe, daß es deinem Vater bald besser geht.«
»Ja, das hoffe ich auch«, sagte Irma und fing zu kichern an. Dann legte sie den Hörer auf.
John Steever kicherte nicht, als er am nächsten Nachmittag seinen Bruder Sam in der Anwaltspraxis anrief. Das Sprechen strengte ihn an. Aber er war nicht betrunken, sondern schien unerträgliche Schmerzen zu
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