1505 - Der blinde Blutsauger
Bad.
Der Spiegel war noch nicht ganz frei, den Rest wischte sie mit den Händen ab und sah sich jetzt.
Das harte Schlucken und das leise Stöhnen deutete darauf hin, dass sie etwas gesehen hatte, das ihr nicht passte.
Wegen der weißen Bluse schimmerten die beiden Wunden noch stärker.
Jeder, der ihre linke Halsseite betrachtete, musste sie einfach sehen.
Stella hatte sich gewünscht, die Wunden durch das Wasser entfernen zu können. Leider war es nicht der Fall. Sie sah sie weiterhin, aber sie wollte nicht, dass andere Menschen sie darauf ansprachen. Deshalb holte sie ein Pflaster hervor und klebte es über die roten Stellen. Erst jetzt war sie einigermaßen zufrieden.
Nur ihr Gesicht sah älter aus. Trotz des Duschens wirkte ihre Haut müde und schlaff. Das Haar sah stumpf aus. Es hatte schon einiges von seiner ursprünglichen braunen Farbe verloren. Die grauen Strähnen waren einfach zu breit, um noch übersehen werden zu können: Es brauchte mal wieder einen Friseur. Momentan hatte sie es nach hinten gekämmt, was ihr auch nicht so zusagte. Das Gesicht gefiel ihr auch nicht. Zu breit war es. Besonders die Wangenknochen traten stark hervor, und deshalb wirkte sie auch stets ein wenig männlich.
Geheiratet hatte Stella Doyle nie. Männer waren ihr immer suspekt gewesen. Es mochte daran liegen, dass ihre verstorbenen Eltern eine sehr schlechte Ehe geführt hatten, und so war die Tochter vor einer Heirat zurückgeschreckt.
Gehen oder bleiben?
Da musste sich Stella noch entscheiden. Besonders gut ging es ihr immer noch nicht, das stand fest, aber sie fühlte sich auch nicht so schwach, dass diese Schwäche sie zwang, im Bett zu bleiben. Der Job war wichtig, und wenn er ihr zu viel wurde, konnte sie noch immer auf ihren Stellvertreter Phil Jurado zurückgreifen.
Sie wollte zur Tür gehen, aber das Schicksal wollte es anders. Wieder läutete das Telefon.
Sehr schnell nahm sie dieses Mal ab, und sie rechnete damit, dass Phil wieder am Apparat war.
»Ich bin gleich da, Phil, du…«
»Du sprichst nicht mit Phil…«
Die Stimme erschreckte sie. Sie war so kalt. Ohne Gefühl, als wäre sie rein mechanisch.
»Wieso - ich meine - ahm, wer sind Sie denn?«
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Nein!«
»Ich bin dein Besuch aus der vergangenen Nacht, meine Liebe…«
Es stimmte!
Ja, sie glaubte ihm jedes Wort. Stella stand neben dem Schreibtisch und wirkte dabei wie eingefroren. Den Hörer hielt sie gegen ihr Ohr gepresst und wunderte sich darüber, dass er nicht zerbrach, weil sie ihn so hart umklammerte.
Es gab auch keine andere Person, die über den Besuch hätte Bescheid wissen können, deshalb war er es, nur ER!
»Bist du noch dran, Stella?«
»Ja«, flüsterte sie heiser.
»Das ist gut.«
Stella riss sich zusammen. Nach einem kurzen Anlauf fragte sie: »Wer sind Sie? Warum rufen Sie mich an? Ich kenne Sie nicht, verdammt noch mal.«
»Oh, du kennst mich schon, Stella.«
»Nein, auf keinen Fall. Ich habe Sie nie gesehen und…«
Er unterbrach sie mit scharfer Stimme. »Doch, ich war schon bei dir. Ich muss mit dir sprechen, denn es ist wichtig für dich. Verstehst du das, Stella?«
»Nein…« Ihr floss trotzdem ein kalter Strom über den Rücken. Ihr war mittlerweile klar geworden,, dass er schon einiges über sie wusste, nur umgekehrt wurde kein Schuh daraus. Sie kannte ihn nicht, aber sie gab zu, ihn schon mal gesehen zu haben.
Nicht so wirklich, nicht mit allen ihren Sinnen, aber in der vergangenen Nacht hatte er sie besucht. Und so musste sie ihn als einen lebendig gewordenen Albtraum ansehen.
Etwas Böses war aufgetaucht und hatte es verstanden, von ihr Besitz zu ergreifen. Der Fremde ließ sie nicht weiterhin nachdenken und sagte mit seiner heiseren Flüsterstimme: »Finde dich damit ab, dass ich in dein Leben getreten bin, meine Freundin.«
Die Heimleiterin war jetzt besonders mutig und fragte: »Hast du auch einen Namen?«
Die Antwort war ein Lachen. »Gut, dass du mich so direkt gefragt hast. Ja, ich habe einen Namen. Ich bin der Baron!«
»Bitte?«
Erneut lachte er. »Ja, man nennt mich Baron. Und jetzt fasse nach deinen beiden Wunden am Hals. Du weißt doch, dass sie sich an der linken Seite befinden.«
Obwohl der Anrufer sie nicht sehen konnte, wurde die Frau blass. Und sie tat, was ihr befohlen worden war. Sie hob die Hand an und fasste nach ihrem Hals. Zielsicher traf sie das Pflaster, das sie auf die beiden winzigen Hügel geklebt hatte. Sie dachte dabei an blutende
Weitere Kostenlose Bücher