1509 - Standbild des Grauens
sich in diesen Augenblicken meilenweit von Myrna entfernt. Er hatte sich damals bis über beide Ohren in sie verliebt. Jetzt war dieses Gefühl zwar nicht erloschen, aber es hatte sich in ein anderes verwandelt. Er fürchtete um ihr Leben und konnte nicht begreifen, dass sie diesen neuen Weg eingeschritten hatte.
»Bleib noch ruhig!«, flüsterte die Cavallo. »Du wirst nur auf mich hören. Sollte ich dir den Befehl geben, bestimmte Dinge zu tun, dann gehorche sofort. Und es ist auch gut, dass du Myrna kennst.«
»Warum?«
Justine verzog ihr Gesicht. Bei einem Menschen hätte man gesagt, er hätte in eine Zitrone gebissen, aber diese Unperson besaß keine Geschmacksnerven, es sei denn, es handelte sich um Menschenblut.
»Du wirst ihr Fragen stellen, und sie wird dir bestimmt antworten.«
»Ich weiß nicht…«
»Wir werden es einfach ausprobieren.«
Schlagartig durchfuhr ihn ein schlimmer Gedanke oder eine schreckliche Vorstellung. Er duckte sich unwillkürlich, und er dachte daran, dass dieser Gedanke auf keinen Fall zu einer grausamen Wahrheit werden durfte.
Was war, wenn Myrna ebenfalls zu einer Blutsaugerin geworden war wie die Person neben ihm?
Er wollte nicht daran denken, nur wurde er diesen Gedanken nicht mehr los. Er überlegte auch, ob er mit Justine Cavallo darüber reden sollte, aber da sie selbst zu den Blutsaugern gehörte, würde sie ihn nur auslachen.
Also behielt er seine Befürchtung für sich und beobachtete Myrna weiterhin. Sie musste nicht mehr lange gehen, um die Treppe zu erreichen. Ein paar Schritte waren es noch, dann blieb sie stehen. Sie stand etwa in der Mitte der untersten Stufe, und selbst jetzt schaute sie weder nach rechts noch links. Sie blickte sogar zu Boden und machte den Eindruck eines Menschen, der sich stark konzentrierte, bevor er an seine eigentliche Aufgabe heranging.
Das passierte bald.
Sie drehte sich nach links.
Der Blick über die Stufen war frei. Da sie tiefer stand, musste sie, wenn sie dem Götzen ins hässliche Gesicht schauen wollte, den Kopf in den Nacken legen.
Das tat sie auch, ging dabei zwei Stufen höher und blieb dort stehen.
Nun passierte etwas, was die beiden Beobachter verwunderte. Myrna breitete die Arme aus und erinnerte in dieser Haltung an eine Priesterin aus grauer Vorzeit, die gekommen war, um sich dem Götzen als Opfer zu zeigen oder ihn anzubeten.
Dabei blieb sie stumm. Nicht ein Wort hörten die beiden heimlichen Zuschauer.
Die fast nackte Frau musste mit dem Götzen eine stumme Zwiesprache halten. Auf nichts anderes wies diese Haltung hin.
»Was tut sie da?«, flüsterte Lucius.
Die Vampirin lachte leise. »Kann sein, dass sie betet.«
»Aber…«
»Lass sie in Ruhe. Wir wollen sie nicht stören. Oder noch nicht. Aber es wird etwas geschehen, das kann ich dir schwören. Und zwar wirst du derjenige sein, der zu ihr geht.«
Lucius duckte sich.
»Was?«
»Ja. Du wirst es sein!«
»Und dann?«
»Sprich mit ihr!«, flüsterte die Cavallo mit scharfer Stimme. »Rede und versuche zu erfahren, was mit ihr los ist. Dann sehen wir weiter.«
Lucius Clay sprach kein Wort mehr. Er war geschockt. Er war tief getroffen, und erneut schössen ihm seine nicht eben positiven Überlegungen von vor einigen Minuten durch den Kopf. Sie auszusprechen wagte er nicht.
Der Schweiß klebte jetzt überall an seinem Körper. Er hatte immer noch keine Entscheidung getroffen. Nur sagte ihm sein Verstand, dass es wohl keine andere Möglichkeit für ihn gab. Wenn er sich jetzt gegen seine Bewacherin stellte, konnte es sein, dass sie ihn in den Hals biss und sein Blut trank.
»Was soll ich denn dort sagen?«
Justine verdrehte die Augen. »War ich in sie verliebt oder du? Du wirst ihr sagen, dass du sie gesucht hast und - na ja, dir wird schon etwas einfallen. Zudem musst du damit rechnen, dass sie dir antwortet, und daraus können sich wieder neue Fragen ergeben, die für uns wichtig sind. Ich wäre auch zu ihr gegangen, aber ich will sie nicht erschrecken. Dich kennt sie, mich nicht.«
Lucius hatte den Argumenten nichts entgegenzusetzen, und damit hatte er zu kämpfen.
»Geh jetzt, bevor sie mit ihrer komischen Anbetung aufhört.«
»Ja, ist gut…«
Wenn es einen Weg in die Hölle gab, so hatte Clay den Eindruck, ihn zu gehen. Nie zuvor in seinem Leben war ihm etwas so schwergefallen, und er fühlte sich, als wären seine Schuhe mit Blei gefüllt. Er konnte die Beine kaum anheben, und das Zittern in seinen Gliedern trug auch nichts dazu bei,
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