1511 - Der letzte Engel
anbrechende Dämmerung hineinwehte.
Ungone sah noch die Lichter, die wie Geister am Rand der Strecke wirkten, dann kippte er weg. Er rutschte mit den Füßen zuerst über den Rand hinweg. Seine Handflächen lagen noch für einen Moment auf dem flachen Dach, dann rutschten auch sie weg.
Archie Ungone fiel neben dem Wagen in die Tiefe…
***
Es würde ihm vielleicht eine Sekunde bleiben bis zum alles entscheidenden Aufprall. Er hätte sich nie vorstellen können, welche Gedanken da durch seinen Kopf zuckten. Und es kam ihm plötzlich vor, als wäre für ihn die Zeit angehalten worden.
Er prallte nicht auf. Er wurde nicht weggeschleudert und danach gegen irgendein Hindernis gewuchtet. Es kam alles anders, und er war nicht fähig, das einzuordnen.
Er spürte aber einen ungewohnten Druck in seinen Achselhöhlen.
Jemand zerrte von innen daran, was er nicht verstand. Er riss seine Augen auf und wunderte sich darüber, dass er etwas sah, auch wenn er keine Einzelheiten ausmachen konnte.
Es war alles sehr verschwommen, doch er war nicht eingetaucht in die jenseitige Geisterwelt, denn mit ihm war etwas anderes passiert, das er im Moment nicht richtig begriff.
Er schwebte. Er konnte fliegen. Er hatte sich von der Gravitation der Welt gelöst, und alles war deshalb so anders geworden, einfach nur noch leicht.
Musste man diese Welt, die sich für ihn eröffnet hatte, verstehen?
Er begriff sie nicht. Archie wusste auch nicht, was genau mit ihm geschah. Seine Welt oder sein Leben hatte sich völlig auf den Kopf gestellt, und hier die richtige Balance zu finden, war verdammt nicht einfach.
Er stöhnte auf und hatte den Eindruck, einen Fremden zu hören. Es war so etwas wie eine positive Vorwarnung auf das Kommende, denn plötzlich hörte er eine Stimme.
»Du musst keine Angst haben, mein Freund. Ich habe dein Leben gerettet und bringe dich in Sicherheit…«
Archie hing im Griff seines Retters und zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten. Die Stimme! Woher war sie gekommen?
Wer hatte da gesprochen?
Er war völlig durcheinander. Für ihn war die Welt trotz seiner Rettung aus den Fugen geraten. Wenn man jetzt von ihm verlangt hätte, eine Antwort zu geben, er hätte es nicht gekonnt. Er wusste nichts mehr und kam sich vor, als wäre er dem eigenen Körper entschlüpft.
Seine Sinne waren noch vorhanden. Auch sein Geruchssinn hatte nicht nachgelassen, und genau der brachte ihm eine Botschaft mit.
Er roch die Frische. Er roch die Natur. Wald oder Wiesen, da kam einiges zusammen. Auch Blumen und…
Er setzte auf. Die fremde Stimme sprach ihn an. Gehörte sie einer Frau?
Da schoss ihm einiges durch den Kopf, und in seine Gedanken hinein hörte er die Worte: »Du bist da, mein Freund…«
***
»Warte hier, John Sinclair, ich bin gleich wieder zurück. Und bitte keine Flucht.«
So hatte mich der Engel vor seinem Verschwinden angesprochen, und da ich wissen wollte, wie dieser seltsame Fall weiterging, tat ich ihm den Gefallen und blieb an dieser Stelle zurück, die recht einsam war, weil ich mich inmitten einer kleinen Gartenanlage befand und nahe der Trennmauer, die sie zum Gelände der Bahn hin abschirmte.
Der letzte Engel hatte mich hierher geschafft. Wir waren sehr schnell geflogen, kein Vergleich zu den Flügen, die ich mit dem Vogelmädchen Carlotta erlebt hatte. Deshalb hatten wir das Ziel schnell erreicht. Von der Umgebung unter mir hatte ich bei dieser Geschwindigkeit so gut wie nichts gesehen.
Und jetzt stand ich an der Mauer. Umgeben von Bäumen, deren Kronen darüber hinweg wuchsen und ein Dach aus Ahorn-und Eichenblättern bildeten.
Vor mir lag die Gartenanlage. Ich konnte mir zwar einen besseren Platz vorstellen als nahe des Schienenstrangs, aber wer sich oft in stickigen Wohnungen aufhielt, der war froh, hier einen kleinen Platz im Grünen gefunden zu haben.
Das Gelände war in Parzellen aufgeteilt, in denen die Besitzer alles Mögliche anbauten. Alles wirkte gepflegt, auch die kleinen selbst gebauten Buden oder Lauben, aber um diese Zeit hatten die Besitzer ihre Gärten bereits verlassen, denn der Tag neigte sich doch stark seinem Ende entgegen.
Vor dem Verschwinden hatte ich X-Ray gefragt, wo unser Flug uns hinführen würde. Seine Antwort war schon ungewöhnlich gewesen.
»Leben retten«, hatte er gesagt. »Das hätte dir doch eigentlich klar sein müssen.«
Ich hatte mich eben noch nicht auf ihn eingestellt, und so blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten. In der Nähe stand
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