1516 - Totenlichter
zurückgetreten war, drückte ich die Klinke. Dabei hoffte ich, dass alles glatt ging und ich nicht sofort gesehen wurde. Und ich betete, dass die Tür keine Geräusche abgab, wenn ich sie aufzog.
Damit hatte ich Glück.
Mein erster Blick fiel in den großen Kirchenraum und hinein in die Düsternis, in der nur schwer irgendwelche Umrisse auszumachen waren.
Ich sah die Wände, ich sah auch Fenster, aber kein Licht, das mir mehr hätte zeigen können.
Wenig später vernahm ich die Stimme. Sie war nicht laut, sie klang auch nicht normal, aber sie gehörte keinem der Jungen, das war zu vernehmen. Ich drückte mich lautlos in die Kirche hinein.
Das Gleiche tat auch Harry, und so wurden wir nicht entdeckt, als wir uns weiter schoben und wenig später in der Deckung einer Säule stehen blieben.
Es war eine recht gute Position, denn unser Blick glitt bis zum Altar hin.
Er bestand aus einer Platte, die von einem Tuch bedeckt worden war.
Eine einsame Kerze stand dort, deren Docht aber nicht brannte.
Dafür gaben andere Kerzen ihr Licht ab. Sie standen auf dem Boden und wirkten wie drapiert. Weshalb man sie dort hingestellt hatte und was sie anleuchteten, das bekamen wir nicht zu sehen, aber es spielte sich vor dem Altar ab.
Und wie aus dem Nichts erschien dort eine Gestalt.
Es war der Killer, dessen waren wir uns sicher.
Der Mann bewegte sich hektisch, und so atmete er auch. Er stand offenbar voll unter Stress. Sein Kopf schwankte hin und her. Im Lichtschein hielt er an, schaute nach unten und riss die rechte Hand hoch, in der er ein Messer hielt.
»Jetzt bist du der Erste, der stirbt!«
***
Der Schuss peitschte auf. Er zerriss die Stille in der Kirche.
Ich hatte geschossen, aber ich wusste nicht, ob ich den Mann getroffen hatte, das Licht war einfach zu schlecht gewesen. Zudem lenkte die Helligkeit der Kerzen ab.
Aber ich hatte Erfolg.
Kein Arm sauste nieder.
Kein Messer traf!
Dafür rollte das Schussecho durch die Kirche, und der Killer machte ein wilde Bewegung, die sehr unkontrolliert wirkte.
Er sprang nach hinten in Deckung der Dunkelheit und ließ die Jungen in Ruhe.
Wohin er flüchtete, sah ich nicht. Es war nur wichtig, dass er von den Kindern wegkam, und zu ihnen rannten wir.
Beide Jungen lebten. Wir sahen sie auf dem Boden liegen, und obwohl nur Sekunden verstrichen waren, kam uns die Zeit viel länger vor.
Wir stürzten auf die beiden zu. Dass wir dabei mit den Schuhen gegen einige Glasgefäße stießen, in denen die Kerzen brannten, und die Scherben knirschend zertraten, störte uns nicht.
Die Hände der Jungen lagen gefesselt auf den Bäuchen. Ihre Gesichter waren nass vom Weinen, die Münder standen offen, und ihre Lippen zitterten. Sie hatten eine Hölle hinter sich, das stand fest, und sie schienen auch jetzt noch nicht begreifen zu können, dass sie noch lebten.
»Okay«, flüsterte ich. »Es ist alles okay. Harry Stahl wird sich um euch kümmern.«
»Mach ich, John.«
Ich wusste die beiden Jungen in guten Händen und bereitete mich auf die Jagd nach dem Killer vor, der sich noch in der Kirche aufhalten musste, denn es war keine Tür geöffnet worden…
***
Wut, Hass, Zorn, Phantomschmerzen, das alles jagte wie eine heiße Welle durch den Körper des Killers. Er war auf sich selbst wütend. Er hätte die Jungen längst töten können, doch er hatte zu lange gezögert, und das hatte sich letztendlich gerächt.
Ich werden alle umbringen!, schoss es ihm durch den Kopf. Es darf niemand überleben. Keiner kommt mir davon, das verspreche ich.
Er drehte den Griff seiner Waffe zwischen den Händen, die für ihn noch immer der Trumpf war, auf den er auch weiterhin setzte.
Fast hätte ihn die Kugel erwischt. Aber eben nur fast. So war es ihm noch gelungen, abzutauchen und sich aus dem Staub zu machen, denn die Kirchenbänke boten eine gute Deckung.
Er ärgerte sich nur darüber, dass er den Schützen nicht genau gesehen hatte. Der Mann hatte sich hinter einer Säule versteckt. Aus dieser sicheren Deckung hatte er ungefährdet schießen können. Aber einen zweiten Schuss würde der Kerl nicht so gezielt ansetzen können, das schwor er sich.
Der Killer war nicht nur abgebrüht, sondern auch raffiniert.
Wahrscheinlich rechnete der Schütze damit, dass er in Richtung Ausgang gelaufen war, um sich zwischen den hinteren Bänken zu verstecken, doch genau das tat er nicht.
Er tauchte zwischen der ersten und der zweiten Reihe unter, wo er sich duckte. Er riss sich zusammen und achtete auf
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