155 - Kriminalfall Kaprun
sagt der Freund.
»Das bestimmt. Trotzdem: Er lehnt keinen Beweisantrag ab, selbst wenn er mir völlig absurd erscheint. Er lässt jede Frage zu, womit sich der Prozess für mich von den eigentlichen Schuldfragen wegbewegt und sich mit großem Aufwand mit Nebensächlichkeiten befasst.«
Brandstetter macht seinen Job als Verteidiger aus Sicht der Beschuldigten, seiner Mandanten, tatsächlich gut. Bereits am 14. Mai 2002, also vier Wochen vor der Prozesseröffnung, ging bei Richter Seiss ein Schreiben der Kanzlei CMS Strommer Reich-Rohrwig Karasek Hainz ein, die in ihrem Briefkopf auch Namen und Titel Brandstetters führt. Persönlich bittet der Rechtsprofessor den Richter, dass die Beschuldigtenvernehmung seines Mandanten nicht am 21. Juni 2002 stattfinden möge, da er an diesem Tag verhindert sei. Anschließend kündigt er unter »PS« Manfred Seiss »eine Sammlung von Argumenten« an.
Es sind Argumente, die direkt in dessen Prozessführung eingreifen. So etwa will Brandstetter »schlüssige« Vorschläge liefern, wie das Rederecht der Opferanwälte massiv eingeschränkt werden kann, weil sie angeblich »kein Recht haben«, sich im Kaprunverfahren nach Ausführungen der Staatsanwältin zu äußern. Äußerungen vonAnwälten der Hinterbliebenen haben die Angeklagten immer wieder schwer belastet und großes Medienecho gefunden.
Am 11. Juli 2002 findet die Hauptverhandlung nicht im Salzburger Kolpinghaus statt, sondern in Linz in der Vabio-Halle, vor den dorthin transportierten Gletscherbahnen, der verbrannten »Kitzsteingams« und dem unzerstörten Gegenzug »Gletscherdrache«. Der Lokalaugenschein, an dem neben dem Gericht die Angeklagten, ihre Verteidiger, Opferanwälte, Gutachter Anton Muhr und Beamte der Kriminaltechnischen Zentralstelle des Innenministeriums teilnehmen, beginnt mit einer Überraschung. Der Richter befragt einen KTZ -Beamten, der Assistenzdienste bei den elektrotechnischen Untersuchungen in Kaprun geleistet hat. Nachdem er Fachfragen beständig ausweicht, geht die Frage an ihn: »Sie sagten, Sie haben keine Unterlagen über Ihren Einsatz bei sich. Ist das richtig?«
»Wir haben den gesamten Akt, der bei uns an der Dienststelle aufliegt, im Kofferraum, mit sämtlichen Materialien, die bei uns verblieben sind, wie Kopien von Plänen und so weiter.«
»Im Kofferraum eines Autos, das Sie hier mithaben?«
»Ja.«
Die Voruntersuchungen sind abgeschlossen, der Prozess hat begonnen, die Gerichtsgutachten liegen vor, ein fünfseitiges Schreiben der KTZ ebenfalls, und erst jetzt legt die KTZ elf prall gefüllte Aktenordner mit allen Unterlagen und Plänen vor. Danninger-Soriat kommt zu dem Schluss, dass hier absichtlich Beweise vorenthalten wurden.
Sie telefoniert mit ihrer Dienststelle und berichtet über den Vorfall. Ungläubiges Erstaunen auch in Salzburg. Als sie am nächsten Tag in Salzburg ist, leitet sie sofort Ermittlungen gegen die KTZ ein. Drei Tage später, am 15. Juli 2002, wird der Leiter der KTZ in Wien vom Dienst suspendiert.
Kapitel 29
Der Prozess wird immer unübersichtlicher. Je besser es den Verteidigern gelingt, mit Nebensächlichkeiten zu verwirren, desto mehr setzt Seiss auf seine Gutachter. Somit liegt die hauptsächliche Beweislast bei Hauptgutachter Anton Muhr und den anderen Sachverständigen, was in einem Prozess nicht ungewöhnlich ist. Sie sollen dem Gericht den Hergang der Katastrophe erklären, damit die Verantwortlichkeiten offen zu Tage treten.
Anton Muhr stellt somit die größte Gefahr für die Angeklagten dar. Sein Gutachten weist akribisch die Brandentstehung nach, konsequent und unbeirrbar bleibt er bei seinen Erkenntnissen: 155 Menschen starben, weil ein ungeeigneter und stümperhaft eingebauter Heizlüfter, der sich direkt neben undichten Ölleitungen befand, den Brand auslöste. Als das Verkehrsministerium am 6. August 2002 dem Gericht offiziell den Endbericht der internationalen Expertenkommission übersendet, liegt Muhrs Reaktion schon vor. Er widerspricht der Meinung der Kommission, dass »keiner mit einem Brand am Fahrbetriebsmittel gerechnet hatte«, heftig.
Muhr widerlegt die Erklärungen der Verteidigung und bremst seine Gutachterkollegen ein, wenn sie sich nicht an die Fakten halten. Als klar wird, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft genau auf Muhrs Feststellungen basiert, attackieren die Verteidiger den Gutachter immer härter.
Schon früh haben sie offenbar erkannt, dass Muhr ein erfahrener Praktiker, aber kein geschulter Rhetoriker ist
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