1550 - Die Frau aus der Knochengrube
Stimme aus dem scheppernden Lautsprecher eines alten Transistorradios hallen.
»Wohin willst du mich begleiten?«
»In eine andere Welt.«
»Ja, da will ich hin.«
»Dann tu es.«
Vanessa zwinkerte. Noch lebte sie, und das spürte sie sehr deutlich. Sie hörte ihren Herzschlag so laut wie nie zuvor; Gleichzeitig spürte sie die Beklemmungen in ihrer Brust, und auch ihr Verstand meldete sich wieder. Eine innere Stimme riet ihr, nichts mehr zu unternehmen und ganz ruhig zu bleiben. Abwarten, das Leben nicht einfach wegwerfen. Es war zu schade darum.
Aber da war die andere Seite. Diese schrille Stimme, die in ihre Gedanken hineinsägte.
»Tu es endlich! Du bist bereit, das sehe ich. Du willst es doch. Du hast lange gewartet.«
»Ja, ja…«
»Dann los!«
Auf einmal waren Vanessas Gedanken wieder wie weggefegt. Die Bahn war frei für das neue Leben. Was sollte das alte noch bringen? Es hatte alles keinen Sinn. Und sie war ja nicht allein. Neun weiteren Freunden erging es ebenso wie ihr. Und sechs davon hatten sich schon umgebracht und existierten nun in einer anderen und besseren Welt.
Ja, es gab kein Zurück mehr.
Vanessa nahm auch die andere Händ zu Hilfe. Sie sah jetzt, dass ihre Finger zitterten. Und wenn sie nach vorn schaute, verschwamm die Gestalt vor ihren Blicken, als wäre sie dabei, sich aufzulösen. Aber sie war noch da, denn Vanessa hörte ihre drängende Stimme.
»Jetzt ist die Zeit gekommen!«
Die junge Frau streifte die Schlinge über ihren Kopf. An der Kehle spürte sie den Druck des rauen Hanfs, und sie hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
Wieder meldete sich die Schattenfrau.
»Ja, das ist wunderbar, mein Kind. So ist es richtig.«
Vanessa lächelte mit geschlossenen Lippen.
»Und jetzt weg mit dem Schemel!«
Vanessas Beine zuckten. Sie hob das linke an und versuchte, den Schemel zum Kippen zu bringen, aber es gelang nicht.
»Das war schlecht…«
»Weiß ich!«
Vanessas Worte waren kam zu verstehen. Sie versuchte es jetzt anders.
Sie sprang hoch. Es sah fast lächerlich aus, aber bevor sie den Schemel wieder mit den Füßen erreichte, trat sie dagegen.
Der Schemel kippte.
Vanessa sackte nach unten. Die Schlinge schloss sich um ihren Hals, und die Schattenfrau stieß ein Kreischen aus, das wohl ein Lachen sein sollte.
Wieder einmal hatte sie gewonnen…
***
»Was hast du?«, fragte Suko.
Ich antwortete mit der Zeichensprache und deutete dabei auf meine Brust.
Sukos Augen weiteten sich. »Dein Kreuz?«
»Ja.«
»Dann ist sie hier?«
»Davon können wir ausgehen«, flüsterte ich, aber dann hielt ich wieder den Mund.
Suko stellte keine Frage mehr.
Wir brauchten die Stille, um etwas hören zu können.
Es war seltsam, denn auch die hinter den Boxentüren stehenden Pferde gaben keinen Laut mehr von sich. Es war, als spürten die Tiere, dass hier etwas Unheimliches und Böses eingedrungen war.
Wir wagten nicht mal zu atmen. Nur unsere Augen bewegten sich, und wir lauschten in alle Richtungen, ob etwas Verdächtiges zu hören war.
Nichts…
Doch daran glaubten wir nicht. Das Kreuz konnte sich nicht geirrt haben. So etwas hatte es noch nie zuvor gegeben, und die leichte Wärme verschwand auch nicht.
Es brachte uns nicht weiter, wenn wir hier stehen blieben. Deshalb wollte ich vorschlagen, in den einzelnen Boxen nachzuschauen, als sich alles änderte.
Ein Geräusch klang auf!
Beide zuckten wir zusammen, schauten uns an, aber es war nicht klar, von wo dieser Laut gekommen war.
Eines stand jedoch fest: Geirrt hatten wir uns nicht.
Es war nichts mehr zu hören, bis auf ein leises Schrillen wie bei einem verstimmten Musikinstrument.
Suko fuhr herum und war bereits unterwegs. Er sagte nichts. Ich vertraute ihm blind, lief hinter ihm her und erreichte die letzte der Boxen in der letzten Reihe.
Suko war vor mir da und zerrte sie auf.
Das Bild, das sich uns bot, schockte uns beide bis aufs Blut!
***
Wir kannten Vanessa Brown nicht, aber wir wussten, dass wir sie gefunden hatten. Und so, wie wir sie fanden, das hätten wir uns nicht träumen lassen.
Sie hatte mal auf einem Schemel gestanden. Jetzt nicht mehr, denn der Schemel lag auf dem Boden, unter den zappelnden Beinen.
Vanessa hing in der Schlinge. Und es stand für uns fest, dass sie sich umbringen wollte.
Noch lebte sie. Es war keine von einem Fachmann durchgeführte Erhängung, die einen schnellen Genickbruch zur Folge hatte. Das hier war etwas anderes.
Sie wurde stranguliert und erlebte
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